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- Newsletter Dezember/Jänner 2019/2020 | Nr. 183
- Editorial: Astronomische Medikamentenpreise: der öffentliche Unwillen steigt
Editorial: Astronomische Medikamentenpreise: der öffentliche Unwillen steigt
Der SOMO-Bericht zeigt im Detail, dass neben den öffentlichen Beiträgen zur Grundlagenforschung, große öffentliche Summen für angewandte Forschung, Forschung zur Arzneimittelentwicklung bis zur Erprobung in klinischen Studien, Venture Capital Fonds (Gelder für und Investitionen in kleinere Biotech-Unternehmen), Public-Private Partnerships (PPP), Darlehen und Steuerbegünstigungen aufgewendet werden. Da gerade in den frühen Stadien und in der prä-klinischen Testung das Risiko zu scheitern besonders hoch ist und private Investoren unwillig sind, ihr Geld dort zu investieren, werden diese Stadien fast ausschließlich durch öffentliche Gelder finanziert. Einige große Pharmafirmen haben schon vor vielen Jahren begonnen, ihre eigenen Forschungsstätten zu schließen oder öffentlich weniger risikoreiche geförderte PPP einzugehen und statt dessen – analog zu Head-Huntern – akademische Institutionen und kleine Biotech-Firmen nach nutzbaren Ergebnissen zu scannen, monitoren und aufzukaufen. Die Strategie ist statt „research & development“ ein „search & development“ zu forcieren. SOMO zeigt anhand von vier akribisch recherchierten Fallbeispielen die öffentlichen Beiträge bei der Arzneimittelentwicklung auf:
- Acalabrutinib/Calquence® zur Behandlung von MCL/Mantelzell-Lymphom, CLL/chronisch lymphatischer Leukämie sowie SLL/ kleinzelligem lymphozytischem Lymphom (SLL) von AstraZeneca: das Medikament wurde vom kleinen Biotech Unternehmen Acerta Pharma in der Provinz Brabant entwickelt, später (Oktober 2019) von AstraZeneca übernommen. Acerta Pharma wurde großzügig durch öffentliche Venture Capital Fonds und Regionalförderungen unterstützt und hält seit 2016 „orphan drug designation“ (Steuerbegünstigungen) der European Medicines Agency (EMA). In den USA wird Calquence® bereits für $ 15.000 pro Behandlungsmonat vermarktet.
- ATIR101 zur einmaligen Behandlung nach haploidentischer Stammzelltransplantation von Kiadis Pharma: Kiadis Pharma, ein Biotech Unternehmen, wurde ebenfalls durch Venture Capital Fonds und Regionalförderungen unterstützt, bevor es sich – bereits bei der EMA zum „conditional approval“ eingereicht - entschloss ATIR101 nicht weiter zu verfolgen, trotzdem der Kiadis CEO von „blockbuster potential“ sprach. Es wurde ein Preis von € 175.000 bis 200.000 angenommen.
- Pembrolizumab/Keytruda®, ein PD-1-Inhibitor zur Behandlung verschiedener Tumoren von Merck/MSD: Pembrolizumab wurde in holländischen Universitäten und dem „Dutch Cancer Institute“ (Ko-Inventor und Patenhalter des ersten Checkpoint Inhibitors) entwickelt (Grundlagenforschung und präklinische Forschung), später vom Pharmaunternehmen Organon übernommen und in PPP weiterentwickelt. Auch ein großer Anteil an klinischen Studien wurde öffentlich finanziert. Basierend auf Informationen aus Clinical Trials Registern entsteht der Eindruck, dass mehr als die Hälfte der mehr als 800 klinischen Studien von öffentlichen akademischen Institutionen initiiert und entweder vollständig (35-37%) oder großteils öffentlich gesponsert wurden. Pembrolizumab ist ein Blockbuster von MSD und wurde 2018 um $ 7,2 Milliarden verkauft (im Vergleich 2017: $ 3,4 Milliarden). Eine Behandlung mit Pembrolizumab kostet rund € 100.000 pro Jahr.
- Lutetium (177Lu) Oxodotreotid/Luthatera®, ein Radiopharmakon zur Behandlung von Neuroendokrinen Tumoren (NET) von Novartis: das Medikament wurde an der Medizinischen Fakultät an der Erasmus Universität in Rotterdam entwickelt und zunächst in den Spitälern selbst hergestellt (Herstellungspreis € 4.000 pro Infusion). Von Novartis aufgekauft und produziert, erhöhte sich der Preis um das 5-Fache (€ 23.000 pro Infusion).
Der SOMO Bericht legt nicht nur Daten und Fakten vor, die für sich sprechen, sondern zeigt höchst anschaulich die Inkohärenz öffentlicher Politiken: Förderungsinstrumente für Wirtschafts- und Standortpolitik vs. Mangel an Politiken für eine nachhaltige Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens. In einem offenen Brief an die Europäische Kommission haben im Dezember 2019 mehr als 40 öffentliche Institutionen im Gesundheitsbereich Forderungen formuliert, öffentliche Interessen stärker in den Mittelpunkt von Politiken zu stellen: eine Prioritäten-Setzung bei Gesundheitsforschung, die vom Public Health Bedarf (nicht von potentiellen Gewinnmargen) ausgeht, transparente und ausgeglichene Führungs- und Steuerungsstrukturen (für F&E im Gesundheitsbereich), ein „Public return on public investment“ zur Absicherung eines gerechten Zugangs zu öffentlich geförderten Forschungsergebnissen, Transparenz jeglicher Forschungsförderungen und „Open Science“ etc. Das LBI-HTA hat diesen Brief mitunterzeichnet.
Priv. Doz. Dr. Claudia Wild, Leiterin des LBI-HTA (und designierte Geschäftsführerin des Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) ab März 2020)
Referenzen:
SOMO Juni 2019, Overpriced - Drugs Developed with Dutch Public Funding. https://www.somo.nl/wp-content/uploads/2019/05/Report-Overpriced-def.pdf
Protect the public interest in EU health research, Nov 2019: https://epha.org/protect-the-public-interest-in-eu-health-research/
TV-Film, Juni 2019: https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/profit-oder-leben----wenn-das-gesundheitswesen-an-die-grenze-geht?id=2d25af65-8632-4394-91e1-8ca5599b44bf