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- Newsletter Juli/August 2017 | Nr. 159
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Akademische klinische Forschung in Österreich – Fakten, Mythen und Visionen
Die steigende Anzahl an akademischen Kleinprojekten wie z.B. Studienabschlussarbeiten führt auch zu einem steigenden Anteil an Studien, die über so gut wie keine Geldmittel verfügt (Low- und No-Budget-Projekte). Nur wenige Projekte sind über eine Unterstützung von industrieller Seite oder von „neutralen“ Fördertöpfen (z.B. lokale Fonds, Forschungsförderungsfonds oder EU-Förderprogramme) ausreichend finanziert. Vor allem nichtkommerzielle Geldquellen wären wichtig, um eine unbefangene Befassung mit Themen zu ermöglichen, die ansonsten nur einseitig beleuchtet werden.
Für kommerzielle und akademische Forschungsprojekte gibt es de facto identische Anforderungen im regulatorischen Bereich. Erleichterungen für letztere, wie sie z.B. in den USA gewährt werden und wie man sie eigentlich logischerweise annehmen müsste, sind in der Europäischen Union nicht vorgesehen. Verbilligungen von behördlichen Meldegebühren und Nichtverrechnung von Ethikkommissions-Bearbeitungsgebühren stellen in Österreich allerdings eine nationale Bemühung in die richtige Richtung dar.
Die Interdisziplinarität klinischer Forschung beinhaltet die Notwendigkeit von einzubringendem Know-how bei Rechts- und Formalaspekten sowie Planung, Qualitätssicherung, Datenmanagement und Biostatistik. Auch hier ist es leider falsch, davon auszugehen, dass die Studiendurchführenden ausreichend Zugriff auf dieses Know-how haben. Nur selten reicht der eigene Wissensstand aus, für einen Zukauf fehlen oft die Mittel. An den Medizinischen Universitäten stehen Unterstützungseinrichtungen (z.B. in Form von Koordinationszentren für klinische Studien) zur Verfügung, diese decken den Bedarf jedoch nur lokal und auch nicht vollständig ab.
Apropos „Freiheit der Forschung“, die ja für Universitäten in der Verfassung verankert ist – eigentlich würden sich Arzneimittel, aufgrund ihrer Omnipräsenz im klinischen Alltag und der damit verbundenen Fülle an offenen Fragen, als begehrter Gegenstand der klinischen Forschung anbieten. Derartige Studien sind aber nicht zuletzt wegen umfangreicher behördlicher Auflagen teuer und aufwändig, belasten also die spärlichen akademischen Ressourcen überproportional. Dies führt wiederum dazu, dass sie klar unterrepräsentiert sind und weniger als ein Zehntel der akademischen klinischen Forschungsprojekte ausmachen. Als Konsequenz muss auf thematische Ansätze mit geringerer formaler Regulierung und somit geringeren Kosten ausgewichen werden. Durch in Bälde eintretende Regulativänderungen (Clinical Trials Regulation [5]) ist bei Arzneimittelstudien eine weitere relevante Erhöhung der bürokratischen und budgetären Hürden zu erwarten. Im Bereich der Medizinproduktestudien ist die Situation ähnlich, zwar nicht ganz so ausgeprägt, aber ebenfalls mit Spielraum für zukünftige verschärfte Regulierungen (Medical Device Regulation [6]).
Ein weiterer Mythos ist, dass sich die Studiendurchführenden vom gesundheitsberuflichen „Tagesgeschäft“ freispielen können, um sich ihren Studien in angemessenem Ausmaß zu widmen. Es ist ihnen (im Gegensatz zu Kollegen aus anderen wissenschaftlichen Gebieten) nur selten möglich, auf Forschungsprojekte zu fokussieren.
Als eine Folge der unzufriedenstellenden Rahmenbedingungen zeichnen sich viele klinische Forschungsprojekte, und hier vor allem die kleinen, durch schlechte Planung (inkl. z.T. gravierender formaler und statistischer Mängel), geringe Qualität und kaum Aussichten auf Gewinnung attraktiver neuer Erkenntnisse aus. Auch die Projektabbruchrate ist ausnehmend hoch. Die Hochrechnung, dass mehr als 85% der in der klinischen Forschung eingesetzten Ressourcen verschwendet werden, also nicht zu relevanten Gesundheitserkenntnissen führen [7], dürfte nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernt sein.
All dies unterstreicht die Forderungen nach einem Ausbau der Sachleistungsunterstützungen (kostenlose Beratungen, ermäßigte Dienstleistungen etc.), nach besserem bzw. praktikablerem Zugang zu finanziellen Subventionen und (im universitären Bereich) nach arbeitszeitlichen Regelungen, die wissenschaftliche Tätigkeiten begünstigen. Konkret ist für akademische Studiendurchführende ein Zugang zu
- formaler Expertise,
- angemessener, maßgeschneiderter Qualitätssicherung,
- biostatistischem Know-how (Planung und Auswertung),
- professionellem Datenmanagement sowie
- kostenlosen oder zumindest sehr billigen Studienversicherungen
notwendig.
Eine – leider zu den derzeitigen Entwicklungen in der Europäischen Union konträre – Vision für die akademische klinische Forschung wäre die Abschaffung der studienbezogenen Überregulierungen (gemeint sind Studiendurchführungsregulative, nicht jedoch die berechtigten Auflagen im Zulassungsprozedere) im Arzneimittel-/Medizinproduktsektor und somit
- die Vereinheitlichung von gesetzlichen Regelungen für die biomedizinische Forschung am Menschen (in Anlehnung an die Inhalte der Deklaration von Helsinki [8] und des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung [9]),
- die Bewertung von StudienteilnehmerInnensicherheit und Studienqualität ausschließlich durch Ethikkommissionen (vgl. Schweizer Humanforschungsgesetz [10]) und
- eine gesonderte Bewertung der Qualität und Sicherheit (nur) von nicht zugelassenen bzw. nicht im Handel befindlichen Prüfprodukten (Arzneimitteln und Medizinprodukten, ggf. auch Nahrungsergänzungsmitteln, Transplantaten etc.) durch Behörden oder kompetente Fachinstitutionen.
Zwar fallen derartige Überlegungen zurzeit in die Kategorie des Unrealistischen, jedoch sollte auch hier der Grundsatz gelten „Steter Tropfen höhlt den Stein“.
Danksagung an Herrn. Univ.-Prof. Dr. Ernst Singer (Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien) für seine Mithilfe bei den Recherchen bezüglich akademischer Studienzahlen.
Dr. Wolfgang Schimetta, Arbeitsgruppe zur Systemoptimierung klinischer Forschungsprojekte, Abteilung für Angewandte Systemforschung und Statistik, JKU Linz
[1] http://www.basg.gv.at/index.php?id=2697&mid=433&ac=6466b185&jumpurl=1
[2] https://forms.ages.at/nis/listNis.do;jsessionid=F790790E068C3FE437838636C9833E38?wfjs_enabled=true
[4] http://www.ethikkommissionen.at/
[5] http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/regulation/general/general_content_000629.jsp
[7] Chalmers I, Glasziou P. Avoidable waste in the production and reporting of research evidence. Lancet 2009; 374: 86–89.
[8] http://www.wma.net/en/30publications/10policies/b3/
[9] http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/090000168008371a
[10] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20061313/index.html