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- Newsletter März 2018 | Nr. 165
- Eine Europäische Normung von Gesundheitsdienstleistungen ist der falsche Weg
Eine Europäische Normung von Gesundheitsdienstleistungen ist der falsche Weg
Zu den Gesundheitsdienstleistungen zählen Dienstleistungen, die in Krankenhäusern, Fachkliniken, Sanatorien, Reha-Einrichtungen, Heil- und Pflegeanstalten, Praxen von Heilberufen (z. B. Arzt, Psychotherapeut, Apotheker) und sonstigen Einrichtungen des Gesundheitswesens von Medizinalfachberufen oder Heilhilfsberufen erbracht werden. „Eine wesentliche Funktion von Dienstleistungsnormen ist die Einführung einer gemeinsamen Benchmark für besonders wichtige Dienstleistungen. Bei dem wachsenden Sektor für Gesundheitsdienstleistungen, insbesondere im Bereich chronische, nichtübertragbare Krankheiten, besteht diesbezüglich Bedarf. In bestimmten Teilgebieten werden gegebenenfalls Normungsaufträge an die europäischen Normungsgremien ergehen, bei denen horizontale Aspekte wie die Patientensicherheit und -registrierung, erkrankungsspezifische Akkreditierungssysteme wie Brustkrebsbehandlungsdienste und stadienspezifische Dienstleistungen, zum Beispiel im Rehabilitationsbereich, bearbeitet werden. Die Kommission wird die Durchführung einer Machbarkeitsstudie veranlassen, um den Bestand an internationalen und nationalen Normen zu ermitteln, und um festzustellen, in welchem Umfang diese Normen Verwendung finden und den Bedürfnissen des Gesundheitssystems gerecht werden. Sie wird ferner die Bedingungen festlegen, die für die Entwicklung von Normen für Gesundheitsdienstleistungen – auch in Bezug auf klinische Normen und die Einbeziehung betroffener Kreise in die Normenentwicklung – gelten könnten.“ (1) (2.2.19. Gesundheitsdienstleistungen).
Bei den Gesundheitsdienstleistungen handelt sich also um ein ausgesprochen heterogenes Feld. Sicherlich sind die grundsätzlichen Ziele der Normung von Gesundheitsdienstleistungen – wie Zugang zu einer umfassenden, nahtlosen Gesundheitsversorgung von hoher und vergleichbarer medizinischer Qualität oder Verbesserung der Patientensicherheit – wichtig und richtig. Aber schon jetzt existieren erprobte und erfolgreiche Strukturen und Prozesse, die auf die jeweiligen Gesundheits- und Sozialsysteme abgestimmt sind. Diese sind auf Basis international anerkannter Methoden, transparent und unter Beteiligung der relevanten Stakeholder erarbeitet worden. Durch eine Normung auf Basis intransparenter und nicht wissenschaftlicher Methoden, die die Besonderheiten der jeweiligen Systeme nicht berücksichtigt, ist daher eher ein Qualitätsverlust zu befürchten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei einer Europäischen Norm vermutlich nur ein Minimalkonsens resultiert. Eine generelle Nivellierung nach unten ist zu befürchten.
Einige Argumente, die gegen eine Normung von Gesundheitsdienstleistungen sprechen:
- Eine Normung steht dem Anspruch der Menschen auf eine auf ihren jeweiligen Einzelfall ausgerichtete Behandlung entgegen. Sie steht damit auch im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, die auf die individuellen Bedürfnisse abzielt. Die Normung ist ebenfalls nicht vereinbar mit dem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health). Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe sowie vorhandene Barrieren und Förderfaktoren müssen im Sinne von Kontextfaktoren stets individuell betrachtet werden.
- Eine Normung macht es unmöglich, neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne einer evidenzbasierten Medizin schnell in die Versorgung umzusetzen – insbesondere, wenn sie den vorgegebenen Normen widersprechen.
- Eine Normung greift auf formaler Ebene in unzulässiger Weise in die nationalen Kompetenzen der Mitgliedstaaten, „Verwaltung, Anforderungen, Qualitäts- und Sicherheitsnormen, Organisation und Bereitstellung der Gesundheitsversorgung festzulegen“ ein.
Seit der ersten Initiative der Europäischen Kommission 2013 haben sich viele maßgebliche Institutionen, Verbände und Interessensvertreter im Gesundheitswesen in Deutschland gegen eine derartige Normung ausgesprochen. Die Deutsche Sozialversicherung fordert etwa (2):
- „die deutschen, europäischen und internationalen Normungsorganisationen DIN, CEN und ISO auf, ihre Aktivitäten und Überlegungen einzustellen, im Bereich von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zu normen. Dies gilt insbesondere für Leistungen, die von der gesetzlichen Sozialversicherung erbracht werden.
- die EU-Kommission auf, in ihrem Arbeitsprogramm oder im Rahmen einer Selbstverpflichtung klarzustellen, dass sie die Normung von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen nicht unterstützt.
- die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die von ihr indirekt gewährte finanzielle Förderung von CEN nicht dazu genutzt wird, Normen für Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zu erarbeiten.
- das deutsche Normungsinstitut (DIN) auf, die aktuelle Normungsroadmap zu Dienstleistungen dahingehend zu ändern, dass eine Normung im Bereich von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen insbesondere in Bezug auf gesetzlich vorgesehene und reglementierte Verfahren nicht erfolgen sollte.“
Der Widerstand, der sich gegen die Normung von Gesundheitsdienstleistungen formiert hat, richtet sich nicht gegen Normung an sich. Diese kann, sinnvoll eingesetzt, durchaus von Vorteil sein – zum Beispiel bei Produktzulassungen. Hier gibt es sicherlich noch einiges zu tun. Dienstleistungen an sich sind bereits schwieriger zu normieren. Ein so komplexes Konstrukt wie die Gesundheitsversorgung eines oder mehrerer Länder normieren zu wollen, ist schlichtweg falsch. Die Normungsinitiative der EU-Kommission kann es zwar schaffen, das gesetzte Ziel gemeinsamer europäischer Standards im Gesundheitsbereich und einer generellen Vergleichbarkeit der Leistungen zu erreichen, die Nebenwirkungen sind aber nicht akzeptabel und der Preis ist damit viel zu hoch.
Dr. Susanne Weinbrenner, MPH, Leiterin des Geschäftsbereiches Sozialmedizin und Rehabilitation & Leitende Ärztin der Deutschen Rentenversicherung Bund
- Arbeitsprogramm für europäische Normung (KOM (2013) 561): http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2013/DE/1-2013-561-DE-F1-1.Pdf
- Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung zur Normierung von Gesundheits- und Sozialleistungen. http://dsv-europa.de/lib/02_Positionspapiere/2015-DSV-Normung-von-Gesundheits-und-Sozialdienstleistungen.pdf