Offenbar hält sich der Mythos, dass ein neu zugelassenes Medikament automatisch eine Innovation ist, hartnäckig. Der Journalismus übernimmt unhinterfragt die Erzählung, nach der das Tempo des Zugangs zu einem Medikament nach dessen Zulassung und Platz eins im Geschwindigkeitswettbewerb die einzigen Qualitätskriterien zu sein scheinen. Nicht berichtet wurde, wer die Studie beauftragt hat (in diesem Fall die Pharmafirma Bristol Myers Squibb). Es wurde in den Medieninterviews auch nicht nachgefragt, ob es vielleicht berechtigte Gründe für die angeführten Zeitspannen gibt. Qualitätsjournalismus schaut anders aus.
Was viele nicht wissen: Bei der Zulassung wird zwar die Wirksamkeit geprüft, nicht aber, ob das Medikament einen größeren Nutzen für Patient*innen hat als Behandlungsalternativen, die bereits bezahlt werden. Genau von diesem Zusatznutzen hängt schließlich ab, was eine echte Innovation und was ein gerechtfertigter Preis für ein Medikament ist. Und genau deshalb ist eine gewissenhafte Evaluation und Preisverhandlung jedes Medikaments, bevor es öffentlich bezahlt wird, so wichtig. Schließlich handelt es sich um ein Solidarsystem, in dem die Mittel begrenzt sind. Patient*innen und ihre Vertreter*innen sollten sich, bevor sie vorschnell die Sozialversicherung als innovationsfeindlich anklagen (oftmals bezahlt von der entsprechenden Pharmafirma) und mit Einzelschicksalen die Politik unter Druck setzen, bewusst sein, dass jede Entscheidung für die Finanzierung eines Medikaments auch Einzelschicksale anderswo verursacht. Dort nämlich, wo die tausenden Euros, die sie für ihre Therapien lautstark verlangen, dann nicht investiert werden können. Denn jeder Euro kann schließlich nur einmal ausgegeben werden. Dass es solche Verdrängungseffekte gibt, zeigen internationale Studien. Eine Sozialversicherung ist für alle Versicherten verantwortlich. Soll sie zukünftig garantieren, dass alle Patient*innen Zugang zu wirksamen Therapien haben, agiert sie daher im Sinne der Versichertengemeinschaft, wenn sie genau prüft, was sie zu welchem Preis zahlt.
Gerade im Spitalsbereich, der in der Studie so vorteilhaft wegkommt, zeigen sich die Folgen eines ungesteuerten Zugangs. Während die Zulassungsstudien oftmals nur für bestimmte Patient*innengruppen die Wirksamkeit belegen, werden die Medikamente in der Praxis viel breiter eingesetzt. Höchste Zeit also, dass das gesetzlich beschlossene Bewertungsboard nun endlich auch für den Spitalsbereich die Möglichkeit schafft, vor dem breiten Einsatz eines Medikaments dessen Zusatznutzen und Einsatzgebiet zu evaluieren, auf Basis dessen angemessene Preise zu verhandeln und österreichweit einheitliche Zugangsbedingungen zu gewährleisten.
Mit der Formulierung, dass viele Anträge „vergeblich“ gestellt werden, bedient die genannte Studie erneut das Bild der innovationsfeindlichen Sozialversicherung, die die Industrie schikaniert. Eine differenzierte journalistische Darstellung würde auch die Gründe für die Ablehnung der Aufnahme in den Leistungskatalog nennen. Fehlte vielleicht der nötige Nachweis eines Zusatznutzens? War der Preis in Relation zum Zusatznutzen zu hoch? Ist es eine vorläufige Ablehnung, weil formale Kriterien nicht erfüllt sind? In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass es nicht wenige Fälle gibt, in denen das Unternehmen erst gar keinen Antrag für die Aufnahme ihres Produkts in den Erstattungskodex stellt, weil es so den Preis selbst bestimmen kann und weil es weiß, dass Medikamente, die nicht im Erstattungskodex sind („no box“) selbstverständlich trotzdem von der Sozialversicherung bezahlt werden, wenn es eine medizinische Notwendigkeit dafür gibt. Daher greift auch das Argument vom nicht vorhandenen Zugang zu Medikamenten in der „no box“ zu kurz.
Es stellt sich die Frage, warum die Studie Österreich ausschließlich mit Deutschland vergleicht. Im Vergleich mit anderen (Sozialversicherungs-) Ländern wäre das Ergebnis ein gänzlich anderes, denn diese (z.B. Niederlande, Belgien) haben selbstverständlich Bewertungsprozesse, bevor sie Entscheidung über die öffentliche Bezahlung von Medikamenten treffen. Als eines dieser Länder haben die Niederlande analysiert, welchen Verlust an Gesundheit auf Bevölkerungsebene die geringfügige zeitliche Zugangsverzögerung aufgrund von Evaluation und Preisverhandlung mit sich bringt. Das Ergebnis zeigte, dass eine ungeregelte Aufnahme in den Leistungskatalog wesentlich weniger Gesundheit für die Bevölkerung bringen würde als durch den derzeitigen Prozess. Das liegt daran, dass aufgrund der Steuerung letztendlich mehr Budget für die Behandlung anderer Erkrankungen – also für alle – zur Verfügung steht.
Erstattungsprozesse sind daher keine Schikane der öffentlichen Kostenträger, sondern ein Gebot der Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung eines Solidarsystems. Statt die öffentlichen Zahler dafür zu kritisieren, dass sie genau prüfen, was öffentlich bezahlt wird, sollten wir uns als Bürger*innen, denen ein Gesundheitssystem für alle ein Anliegen ist, genau dafür einsetzen. Es gibt zahlreiche Baustellen im österreichischen Gesundheitssystem, die zurecht zu verbessern sind. Der Zugang zu Medikamenten gehört nicht dazu.
Ingrid Zechmeister-Koss ist stellvertretende Institutsleiterin am Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA)
Referenzen
Economica GmbH/ AT 2024: Zugang zu medizinischen Innovationen in Österreich. https://www.economica.eu/wp-content/uploads/2024/03/NO-AT-2400008_ATI-final.pdf.
Boer et al. 2023. Effecten van des sluis. Onderzoek naar de effecten van des sluis voor intramurale geneesmiddelen. https://www.zorginstituutnederland.nl/publicaties/rapport/2023/08/16/onderzoeksrapport-equalis-over-effecten-van-de-sluis-voor-dure-geneesmiddelen.
Zur Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit bei Kniearthrose wurden drei rezente systematische Übersichtsarbeiten herangezogen. Diese analysierten die autologe Fetttransplantation bei Kniearthrose hinsichtlich Schmerzen, Funktion, bildgebender Veränderungen und Nebenwirkungen. Der Vergleich erfolgte mit verschiedenen Therapieformen, darunter Placebo- oder Hyaluronsäureinjektionen und plättchenreiches Plasma. Die Bewertung der Endpunkte erfolgte mittels Visual Analogue Scale (VAS), dem Western Ontario and McMaster Universities Osteoarthritis Index (WOMAC) und dem Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score (KOOS). Signifikant bessere Ergebnisse konnten mit der autologen Fetttransplantation in Bezug auf Schmerzen nach sechs, zwölf und 24 Monaten festgestellt werden, wobei der minimal klinisch relevante Unterschied auf der VAS-Skala nicht erreicht wurde. Die KOOS-Ergebnisse waren teilweise zugunsten der Intervention, während sich Verbesserungen im WOMAC sowie in der Knorpelumstrukturierung (ermittelt über bildgebende Verfahren) heterogen gestalteten. Zu den Nebenwirkungen zählten Schmerzen an der Fettentnahmestelle, in den Kniegelenken sowie Schwellungen und Hämatome.
Die vorliegende Evidenz deutet darauf hin, dass die autologe Fetttransplantation eine potenzielle Reduktion von Schmerzen und Verbesserung der Gelenksfunktion bei Kniearthrose bieten kann. Die klinische Relevanz ist jedoch keineswegs eindeutig. In Bezug auf Arthrosen in anderen Gelenken ist die Evidenz derzeit unzureichend. Es wird empfohlen, zukünftige Studien durchzuführen, welche die Wirksamkeit der autologen Fetttransplantation in anderen Gelenken untersuchen. Darüber hinaus sollten diese Studien die optimale Dosis und Anzahl der Anwendungen von autologer Fetttransplantation ermitteln. MR
AIHTA/AT 2023: Autologe Fetttransplantation bei Arthrose. HTA-Informationsdienst Rapid Review Nr.: 007. https://eprints.aihta.at/1490/.
In den zwei für die Analyse ausgewählten systematischen Übersichtsarbeiten wurden sowohl RCTs als auch nicht-randomisierte Studien von Interventionen eingeschlossen. Die gemittelte Übereinstimmungsrate (Konkordanz) in 63 Studien lag dabei bei 96,9%, mit einer Range je nach Organsystem von 77.8-100%. Die Konkordanzraten von neueren Studien (mit dynamischer Telepathologie) waren höher als in älteren Studien. Die Durchlaufzeit, gemessen in 7 Studien, lag bei 17,75 Minuten pro Fall. In Bezug auf technische Fehler waren Internetstörungen und Scanprobleme die häufigsten Ursachen für längere Durchlaufzeiten. Organisatorische Aspekte wurden in den inkludierten Studien nur selten berichtet. Insgesamt sind diese Studien aufgrund methodischer Mängel (inadäquate Randomisierung, selektive Probenauswahl) in ihrer Aussagekraft eingeschränkt. Durch eine Expert*innenkonsultation konnte zudem festgehalten werden, dass die Implementierung der Telehistopathologie eine angemessene Infrastruktur erfordert. Die Schnellschnittdiagnostik erfordert spezielle Pathologielabore und geschultes Personal vor Ort. Neuere Methoden (wie etwa die konfokale Fluoreszenzmikroskopie, oder die Raman-Spektroskopie) sind in den Voraussetzungen vor Ort einfacher, da sie ohne Gefrierschnitt durchgeführt werden, aber wiederum mit größeren Anforderungen an das empfangende Institut verbunden sind. Die Interpretation dieser virtuellen Schnitte erfordert dabei eine Lernkurve beim Personal, und ist je nach Gewebetyp unterschiedlich effektiv.
Ein vom spanischen Gesundheitsministerium herausgegebener HTA-Bericht (2022) kommt zum Schluss, dass die digitale Pathologie eine wirksame und sichere Diagnosetechnik darstellt. Laut diesem Bericht erfordert die Einführung eines solchen Systems vielschichtige Implementierungsaspekte (entsprechend geschultes Personal, Anschaffung von Geräten und Software, Einhaltung von EU-Vorschriften und Datenschutz, Integration in die Gesundheitstelematik). Das Fazit: Die Evidenz deutet auf eine vergleichbare diagnostische Genauigkeit und Durchlaufzeit zwischen der telepathologischen Schnellschnittuntersuchung und der konventionellen Mikroskopie hin. Eine Implementierung erfordert die Berücksichtigung technologiespezifischer Aspekte. RJ
AIHTA/ AT 2024: Einsatz von Telepathologie bei der intraoperativen Schnellschnittuntersuchung. HTA-Informationsdienst Rapid Review Nr.: 012. https://eprints.aihta.at/1505/.
Da keine systematischen Übersichtsarbeiten oder (randomisierten) kontrollierten Studien identifiziert wurden, welche die Liposuktionsbehandlung mit der chirurgischen Exzision vergleichen, wurden sechs unkontrollierte Fallserien für eine narrative Synthese der Ergebnisse herangezogen. Fallserien haben grundsätzlich ein erhöhtes Verzerrungsrisiko; methodische Mängel der inkludierten Studien schränken die Aussagekraft der Ergebnisse weiter ein. Insgesamt deutet die vorliegende Evidenz darauf hin, dass durch die Liposuktionsbehandlung mit zusätzlicher Exzision der Lipom-Kapsel in den meisten Fällen eine vollständige Entfernung subkutaner mittelgroßer bis großer Lipome erreicht werden kann, ohne dass es zur Bildung eines Rezidivs kommt. Alle sechs Studien berichten von guten kosmetischen Ergebnissen mit nur kleinen und kaum sichtbaren Narben; Hautunregelmäßigkeiten traten nach der Entfernung großer Lipome in wenigen Fällen auf. Die Zufriedenheit der Patient*innen wurde in drei Studien erhoben und war generell hoch; ein standardisiertes Tool wurde jedoch in keiner der Studien verwendet. Postoperativ auftretende Nebenwirkungen umfassten Ödeme, Ekchymosen, Hämatome, Serome, Quetschungen und Vertiefungen/ Dellen. In den meisten Fällen bildeten sich diese ohne Komplikationen von selbst zurück. Es wurden keine schwerwiegenden Nebenwirkungen berichtet.
Als wichtige Voraussetzung für eine Liposuktionsbehandlung wird eine vorangehende Abklärung der Gutartigkeit des Tumors durch klinische Untersuchung, Biopsie und gegebenenfalls auch durch bildgebende Verfahren beschrieben. In mehreren Studien wird der Einsatz der Liposuktion für Lipome ab einer Größe von ca. 4 cm empfohlen, da hier der Vorteil kleinerer Narben besonders relevant ist. Grundsätzlich wären randomisierte, kontrollierte Studien mit ausreichend langem Follow-up und einer größeren Patient*innenzahl wünschenswert, welche die Liposuktionsbehandlung mit der chirurgischen Exzision vergleichen. JM
AIHTA/AT 2024: Liposuktion zur Entfernung subkutaner (großer) Lipome. HTA-Informationsdienst Rapid Review Nr.: 009. https://eprints.aihta.at/1498/.
Die Analyse der Wirksamkeit und Sicherheit der vier CGRP-Antagonisten basierte auf 27 randomisierten Kontrollstudien. Diese Studien zeigten, dass der Einsatz von CGRP-Antagonisten bei episodischer und chronischer Migräne im Vergleich zu Placebo die Anzahl der monatlichen Kopfschmerz- und Migränetage signifikant reduzierte, mehr Patient*innen ansprachen und die Lebensqualität verbesserte. Es wurden keine signifikanten Unterschiede bezüglich schwerwiegender oder behandlungsbedingter unerwünschter Ereignisse festgestellt. Übereinstimmende Ergebnisse wurden für Patient*innen, die auf mehr als zwei vorherige präventive Therapien nicht ansprachen, berichtet. Die ökonomische Bewertung ergab, dass CGRP-Antagonisten bei chronischer Migräne kosteneffektiver sind und niedrigere Medikamentenpreise die Kosteneffektivität weiter verbessern könnten, was sich folglich auch positiv auf das Kostenbudget auswirken würde. Das RACS wies darauf hin, dass aufgrund kurzer Nachbeobachtungszeiträume keine Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit und Sicherheit der CGRP-Antagonisten möglich waren. Ebenso fehlten evidenzbasierte Schlussfolgerungen über ihre Wirksamkeit und Sicherheit im Vergleich zur aktuellen Standardbehandlung (z.B. Betablocker, Kalziumantagonisten, Antikonvulsiva, Antidepressiva).
Die Behandlung von Migräne umfasst nicht-medikamentöse (z.B. Lebensstil) und medikamentöse Therapien, sowohl akut als auch präventiv. CGRP-Antagonisten werden in den meisten Ländern als präventive Zweit- oder Drittlinientherapie eingesetzt, außer in Mexiko, wo sie auch als erste präventive Therapie empfohlen werden. Zukünftige randomisierte Kontrollstudien mit längeren Nachbeobachtungszeiträumen über 12 Monate sind erforderlich, um die langfristige Wirksamkeit und Sicherheit im Vergleich zu anderen präventiven Migräne-Standardtherapien zu bestätigen und Unsicherheiten bezüglich der langfristigen Kosteneffektivität zu reduzieren. SW
Bundesamt für Gesundheit (BAG)/CH, Royal Australasian College of Surgeons (RACS)/ AUS 2023: Vorbeugung von chronischer und episodisch auftretender Migräne mit CGRP-Antagonisten. https://www.bag.admin.ch/bag/en/home/versicherungen/krankenversicherung/krankenversicherung-leistungen-tarife/hta/hta-projekte/cgrp-antagonists.html.
15. bis 19. Juni 2024
HTAi
„A Turning Point for HTA? Sustainability, Networks and Innovation”
Sevilla
https://htai.eventsair.com/htai-2024-annual-meeting
01. bis 03. Juli 2024
EuHEA Conference 2024
„Opening up perspectives on health economics“
Wien
https://euhea.eu/welcome_conference_2024.html
05. bis 06. November 2024
ANP-Kongress
„Klinisches Leadership & Verantwortung“
Linz
13. bis 15. November 2024
17th European Public Health Conference 2024
„Sailing the waves of European public health: exploring a sea of innovation “
Lissabon
Impressum
Redaktion: Claudia Wild/ CW, Ozren Sehic/OS
JM: Julia Mayer-Ferbas
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RJ: Reinhard Jeindl
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