Genau 25 Jahre ist es her, dass die Gewissheit der Deutschen, über das beste aller Gesundheitssysteme zu verfügen, massiv erschüttert wurde. Der unabhängige Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hatte ein vielbändiges Gutachten zu Über-, Unter- und Fehlversorgung vorgelegt. Dieses Gutachten führte zu einem Aufschrei bei den meisten Akteuren aus dem vielgliedrigen deutschen Gesundheitswesen, weil der Rat ein unkoordiniertes Nebeneinander dieser Fehlentwicklungen in der Versorgung konstatierte. Pech für den Chor der Kritiker, dass der Rat sein Ergebnis in einer Art Meta-Studie auf die Angaben und Studien genau dieser Akteure stützte. Das wollten die ehrwürdigen Institutionen und speziell die Repräsentanten der „Eminenz basierten Medizin“ nicht wahrhaben.
In der Folgezeit war die Gesundheitspolitik nicht mehr so leicht von der Überlegenheit des tradierten Systems zu überzeugen. Es entwickelte sich auch in Deutschland ein eigener Weg zur Evidenz basierten Medizin (EBM) mit einem neuen Selbstverständnis der Gesundheitsprofessionen und neuen Institutionen wie dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Der Siegeszug von EBM wurden jedoch jäh gestoppt, als die Corona-Pandemie die Sehnsucht nach einfachen und schnellen Lösungen beförderte und Politiker ihre eigene Sichtweise zum alleinigen Maßstab der Evidenz erklärten. Folgerichtig wurden viele Fehlentscheidungen getroffen, deren Folgen bis heute nicht aufbereitet sind, und der EBM großen Schaden zugefügt haben.
In jüngster Zeit lässt sich die Bevölkerung nicht mehr mit oberflächlichen Zahlen abspeisen, im internationalen Vergleich habe Deutschland ausreichend viele Ärzte und Pflegekräfte. Vor Ort wird fast flächendeckend über echte oder zumindest gefühlte Unterversorgung berichtet. Demoskopische Erhebungen und Erkenntnisse aus dem Beschwerdemanagement von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen sind Indikatoren dafür, dass die Terminsuche in der haus- und fachärztlichen Versorgung, bei Krankenhäusern und Pflegeheimen schwieriger geworden ist und sich Engpässe in der Medikamentenversorgung häufen. Speziell für strukturschwache Regionen und Stadtteile zeigen sich alarmierende Anzeichen für die Gefährdung der Sicherstellung einer angemessenen Versorgung. Jüngere interdisziplinäre Arbeiten zeigen einen Zusammenhang von mangelhafter Gesundheitskompetenz und Unterversorgung. Auch kommt es häufiger zu dysfunktionalen Interferenzen mit dem mangelhaften Organisationsgefüge des Gesundheitswesens, wie insbesondere dem unsystematischen Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung oder der mangelhaften Koordination und Kooperation zwischen unterschiedlichen Behandlern und Gesundheitsprofessionen (Fehlversorgung) und der Ersetzung bzw. Ergänzung der bedarfsnotwendigen Leistungen durch nicht Evidenz basierte Leistungen (Überversorgung). Dabei muss man sich bewusst sein, dass die Studienlage zur den heutigen Versorgungsrealitäten noch dürftig ist und nicht jede Wartezeit zu einer Verschlechterung der Versorgung führt. Dies gilt ganz besonders im Hinblick auf einen internationalen Vergleich. Hier ist die Versorgungsforschung akut gefordert. Wissenschaftler und Praktiker sehen die Notwendigkeit, die Definition von Unter- und Fehlversorgung im Hinblick auf eine bessere Abbildung objektivierbarer und konkret messbarer Kriterien aus der EBM zu erneuern und dabei die Bedarfsgerechtigkeit unter Beachtung sozio-ökonomischer Kontextfaktoren zu bestimmen. Vielleicht befruchtet diese neue EBM-Debatte auch die Diskussion in Österreich.
Franz Knieps war bis zur Pensionierung im Juni 2025 Vorstandsvorsitzender des Dachverbands der Betriebskrankenkassen und zuvor Sektionschef im Bundesministerium für Gesundheit. *
Mehr Infos:
Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Knieps, F., Kraemer, K., Reiners, H., Scherer, M., Voshaar, T.: Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen - das unterschätzte Problem. Monitor Versorgungsforschung 18, 2/2025, 47-64 (unter Mitarbeit von J. Windeler). https://www.monitor-versorgungsforschung.de/aktuelles/oa-archiv .
Das Projekt zielt darauf ab, einen Rahmen für Arzneimittelpreise zu entwickeln und den Wettbewerb zwischen den Herstellern anzukurbeln. Angestrebt wird ein gutes Verhältnis zwischen Kosten und Wirkungen, ein möglichst großer gesundheitlicher Gewinn für die Gesellschaft und eine gerechte Verteilung des Gesundheitsbudgets. Dazu soll der Mehrwert neuer Arzneimittel möglichst objektiv festgestellt werden. Dazu wurden u. a. das Marktgeschehen analysiert, Expert:inneninterviews geführt und auch Bürger:innen nach ihrer Einschätzung gefragt. Im Rahmen eines Bürgerforums, das vom Radboud University Medical Center organisiert wurde, diskutierten 24 Personen an zwei Wochenenden ausführlich über teure Medikamente für seltene und chronische Erkrankungen. Sie erhielten dabei Input von Expert:innen aus Wissenschaft, Ethik und Pharmazie. Zusätzlich wurde eine landesweite Umfrage durchgeführt, an der 880 Bürger:innen teilnahmen.
Die wesentlichen Ergebnisse: Die Bevölkerung ist bereit, höhere Preise in Kauf zu nehmen, wenn Arzneimittel nachweislich einen hohen gesundheitlichen Nutzen bringen, die Lebensqualität verbessern oder dafür sorgen, dass die gesellschaftliche Teilhabe wiederhergestellt wird. Sie zeigten sich jedoch kritisch, wenn Unsicherheit im Hinblick auf die Wirksamkeit oder Sicherheit besteht, wenn der Innovationsgrad gering oder der Preis erheblich höher ist als in anderen Ländern. Die Bürger:innen vertraten auch die Meinung, dass die Regierung es wagen sollte, „Nein“ zu neuen Medikamenten zu sagen, wenn die Preise inakzeptabel hoch seien. Von den Pharmafirmen forderten sie Transparenz im Hinblick auf die Preisstruktur von Arzneimitteln. Die Preise müssten in einem angemessenen Verhältnis zu den Entwicklungskosten und den gesellschaftlichen Werten stehen. Ihr Fazit: Medikamente sind wichtig, aber nicht um jeden Preis.
Im Herbst sollen die Empfehlungen der Projektgruppe an den Minister für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport übermittelt werden. Die Ergebnisse der Bürger:innenbefragung wurden dem Parlament bereits im Vorfeld des Gutachtens übermittelt.
Mehr Infos:
NZa, ACM, ZIN/NL 2025: MAUG. https://www.maug.nl/nieuws/2025/ .
Die Erbringung von Rehabilitationsleistungen über Informations- und Kommunikationstechnologien umfasst verschiedene Arten von Interventionen, wie z. B. Bewegungsprogramme, Edukation und Strategien für ein verbessertes Selbstmanagement. Die Telerehabilitation kann auf verschiedene Arten bereitgestellt werden, die Kommunikation synchron (in Echtzeit) oder asynchron (zeitversetzt) erfolgen. Als Telekommunikationstechnologien finden z. B. Apps, Plattformen, SMS/ E-Mail, Anruf, Videos und Online-Konsultationen Anwendung.
Im Rapid Review untersuchte das AIHTA die Evidenz anhand folgender Fragestellung: Wie wirksam und sicher ist Telerehabilitation bei Patient:innen mit chronischen Schmerzen im unteren Rücken im Vergleich zur Standardtherapie oder keiner Behandlung, in Bezug auf Schmerzreduktion, Verbesserung der Funktion, Lebensqualität und in Bezug auf Nebenwirkungen?
Fazit: Aufgrund der (sehr) niedrigen Evidenzqualität sind weitere qualitativ hochwertige Studien mit längerem Beobachtungszeitraum und Empfehlungen in Leitlinien erforderlich, bevor eine konkrete Empfehlung für die Telerehabilitation gegeben werden kann. In Fällen, in denen eine Standardtherapie nicht möglich ist, könnte die Telerehabilitation eine Behandlungsalternative darstellen.
AIHTA/AT 2025: Telerehabilitation zur Bewegungsunterstützung bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen. Rapid Review Nr.: 18. https://eprints.aihta.at/1561 .
Im vorliegenden Rapid Review des AIHTA wurde die Evidenz anhand folgender Fragestellung untersucht: Wie wirksam und sicher sind Serumaugentropfen (mit oder ohne Tränenersatzmittel) bei Patient:innen mit schweren Erkrankungen der Augenoberfläche (insbesondere bei Keratokonjunktivitis sicca) im Vergleich zur Standardtherapie, Placebo oder keiner Behandlung, in Bezug auf diagnostische Parameter, Lebensqualität und Nebenwirkungen?
Fazit: Die Evidenz aus drei systematischen Übersichtsarbeiten zeigt Vorteile von Serumaugentropfen im Vergleich zu Tränenersatzmitteln bei schweren Augenoberflächenerkrankungen, insbesondere bei Keratokonjunktivitis sicca (= trockenes Auge). Es wurden positive Effekte auf Lebensqualität und Tränenfilmaufreißzeit gezeigt, während die Ergebnisse zu Tränenproduktion und Färbung der Augenoberfläche (mittels Tests zur Sichtbarmachung von Abnutzungen und Schäden von Horn- bzw. Bindehaut) weniger einheitlich waren. Die Daten zur Sicherheit deuten auf ein geringeres Nebenwirkungsrisiko im Vergleich zu Tränenersatzmitteln hin. Hauptlimitationen der inkludierten Übersichtsarbeiten sind fehlende Langzeitdaten und unterschiedliche Konzentrationen der Serumaugentropfen in den Studien und in der Praxis (in Österreich meist unverdünnt, in den Studien bis zu 50% mit Natriumchlorid verdünnt). Aktuelle Leitlinien empfehlen Serumaugentropfen bei therapieresistenten Formen des trockenen Auges, jedoch erst nach erfolgloser Anwendung konventioneller Therapien. Serumaugentropfen können somit eine Alternative darstellen, wenn konventionelle Therapien nicht ausreichen.
AIHTA/AT 2025: Serumaugentropfen bei Patient:innen mit schweren Erkrankungen der Augenoberfläche. Rapid Review Nr.: 17. https://eprints.aihta.at/1559 .
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen und entscheidet darüber, welche Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden. Im Rahmen eines strukturierten Bewertungsverfahrens wird geprüft, ob sie den Kriterien für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung entsprechen. In jenen Fällen, in denen die wissenschaftliche Datenlage noch keine sichere Entscheidung zulässt, muss – sofern das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative besteht – die Methode in einer Studie erprobt werden.
Bisher war die Liposuktion in Deutschland nur bei einem Lipödem im Stadium III und als befristete Ausnahmeregelung eine Kassenleistung. Patient:innenvertretungen stellten im G-BA einen Antrag auf eine „Erprobungsstudie“. Erste Ergebnisse dieser Studie (LIPLEG) zeigen nun, dass die operative Fettgewebsreduzierung deutliche Vorteile gegenüber einer alleinigen nichtoperativen Behandlung hat.
Der G-BA hat daraufhin den Leistungsanspruch mit einer Reihe von qualitätssichernden Maßnahmen beschlossen. So muss unter anderem vor einer Liposuktion eine konservative Therapie, wie z. B. Kompressions- und Bewegungstherapie sechs Monate lang kontinuierlich durchgeführt werden. Sollte trotzdem keine Linderung der Beschwerden eintrete und die weiteren Voraussetzungen gemäß der Qualitätssicherungs-Richtlinie vorliegen, kann eine Liposuktionsbehandlung verordnet werden. Geht das Lipödem mit einem bestimmten Ausmaß einer Adipositas einher, muss diese vorrangig behandelt werden. Als weitere verpflichtende Maßnahmen wurden auch die Qualifikation der indikationsstellenden und operierenden Mediziner:innen sowie die Kriterien der Operationsplanung und postoperativen Nachbeobachtung beschlossen.
Studien zeigen, dass viele Menschen nach Behandlungen gegen Adipositas oder nach Gewichtsmanagementprogrammen weitere Unterstützung benötigen, um ihr Gewicht langfristig zu halten und gesund zu bleiben. Aus diesem Grund sieht der neue Qualitätsstandard vor, Personen nach Abschluss einer Gewichtsmanagementbehandlung mindestens ein Jahr lang strukturierte Beratung und Nachsorge anzubieten. Neben regelmäßigen Kontrolltermine umfasst der Standard praktische Strategien zur Unterstützung nachhaltiger Routinen und zur Selbstüberwachung, interdisziplinäre Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe, soziale Angebote, familiengeführte Interventionen und lokalen Aktivitäten, wie Selbsthilfe-, Fitness- oder Wandergruppen. Die Online-Plattform „NHS Better Health“ bietet zusätzlich digitale Apps sowie Chatforen an.
Der neue Qualitätsstandard ersetzt drei ältere Standards und fokussiert auf outcome-orientierte Qualitätsindikatoren und Vorgaben zur intensiveren interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Hausärzt:innen, Ernährungsfachkräften, Psycholog:innen und Bewegungsexpert:innen. Der neue Standard legt zudem mehr Gewicht auf individuelle Risikoprofile, kulturelle Faktoren und soziale Determinanten. Auch das Thema „Stigmatisierung“ wird explizit adressiert: Personen, die mit Fachkräften aus dem Gesundheits- und Pflegebereich über das Leben mit Übergewicht oder Adipositas sprechen, sollten in einer personenzentrierten und wertfreien Weise angesprochen werden.
25. bis 26. September 2025
10. Österreichischer Primärversorgungskongress 2025:
"Digitale Transformation in der Primärversorgung – Welche Chancen und Risiken ergeben sich dadurch?“
Graz
30. September bis 03. Oktober 2025
28. European Health Forum Gastein 2025
"Rethinking solidarity in health. Healing Europe´s fractured social contract"
Panel on Transparency of public contributions to drug development: 1. Oktober, 9:00
Hybrid
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