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- Newsletter Februar 2022 | Nr. 204
- Editorial: Disruptive Technologien im Gesundheitswesen
Editorial: Disruptive Technologien im Gesundheitswesen
Damit hat sich eine Arbeitsgruppe des International Network of Agencies for Health Technology Assessment (INAHTA) beschäftigt und ein Positionspapier dazu erstellt. In einem aufwändigen Prozess wurde zunächst die Herkunft des Begriffs geklärt und dann wurde untersucht, ob sich Beispiele in der Literatur finden lassen, in denen eine Disruption tatsächlich stattgefunden hat. Tatsächlich stammt der Begriff aus einem wirtschaftswissenschaftlichen Konzept, das auf den Harvard-Professor Clayton Christensen (1952-2020) zurückgeht und ein Phänomen beschreibt, bei dem eine neue Technologie, die weniger aufwändig ist in Verbindung mit einem entsprechenden Geschäftsmodell eine etablierte verdrängen kann und dadurch eine Disruption des Marktgeschehens bewirkt. Historische Beispiele sind Personalcomputer (haben Großrechner weitgehend verdrängt und einen neuen Markt eröffnet) oder digitale Tonträger (die analoge Tonträger weitgehend verdrängt haben). Überträgt man das Konzept auf das Gesundheitswesen, dann fallen einem spontan vielleicht viele Innovationen ein, aber doch wenige konkrete Beispiele. Und genau hier setzte die Arbeitsgruppe an.
Eine systematische Literaturanalyse zeigt, dass es dann zu Disruptionen im Gesundheitswesen kommen kann, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind: Die Technologie ist bspw. weniger invasiv, weniger aufwändig, mobiler, gut standardisierbar, besser bzw. einfacher zugänglich (bezogen auf Kosten und Verfügbarkeit), verbessert bzw. ermöglicht das Selbstmanagement, ändert den Behandlungspfad und benötigt weniger Spezialisierung bzw. Ausrüstung. Interessanterweise stammen die meisten (der insgesamt nicht zahlreichen) Beispiele aus den USA und beziehen sich auf neuere Versorgungsformen, wie bspw. Retail-Kliniken, die einfache medizinische Leistungen (etwa Antibiotikatherapie bei Halsentzündung, Impfungen) in Supermärkten für wenig Geld durch speziell geschultes Pflegepersonal rund um die Uhr anbieten und so ein niedrigschwelliges Angebot für Unter- oder Nichtversicherte schaffen. Der (mitunter teure) Besuch in einer Arztpraxis kann damit entfallen. Weitere Beispiele sind perkutane koronare Intervention (statt Bypass-Operation), Transkatheter Aortenklappenimplantation (statt chirurgischer Klappenersatz) oder virtuelle Akutkliniken (statt Notaufnahmen), die allerdings nicht nur für die USA relevant sind.
Insgesamt gibt es wenige empirische Daten zu disruptiven Technologien im Gesundheitswesen, aber der Begriff wird sehr häufig missbräuchlich für Innovationen verwendet, die lediglich ein Substitutionspotential haben oder als zusätzliche Option verwendet werden. Die genannten Kriterien können HTA-Einrichtungen und Regulatoren helfen, Technologien mit Disruptionspotential zu identifizieren und dann vor allem organisatorische und gesundheitsökonomische Bewertungen vorzunehmen, um ggf. eine aktive Rolle bei der Verbreitung im Gesundheitswesen zu spielen.
PD Dr. med. Matthias Perleth, MPH, Abteilung Fachberatung Medizin, Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), Berlin
Referenzen:
Matusiewicz D, Pittelkau C, Elmer A (Hrsg.) Die Digitale Transformation im Gesundheitswesen- Transformation, Innovation, Disruption. Berlin, MWV 2017.