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- Newsletter Oktober 2016 | Nr. 151
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Finanzielle Spekulationen behindern Versorgung mit Arzneimitteln
Strategien der Industrie am Beispiel Gilead und Sofosbuvir (SOVALDI)
Der Polymerasehemmer Sofosbuvir (Sovaldi) gilt als Durchbruch in der Therapie der Hepatitis C. Sofosbuvir und die nachfolgend eingeführten anderen direkt antiviral wirkenden Hepatitis-C-Mittel ermöglichen auch ohne Interferone sehr hohe virologische Ansprechraten. Die exorbitant hohen Preise, zu denen der Polymerasehemmer und seine Nachfolger in den Handel gebracht wurden, bedrohen jedoch die Finanzierbarkeit der Gesundheitssysteme in aller Welt. In Deutschland müssten nach Berechnungen von WHO-Autoren mehr als 20% des Arzneimittelbudgets aufgewendet werden, um alle betroffenen Patienten mit Sofosbuvir zu behandeln, in den USA und auch in vielen anderen europäischen Ländern noch deutlich mehr (1). Weder die Herstellungs- noch die Entwicklungskosten können diese Preise rechtfertigen. Britische Soziologen beleuchten am Beispiel des Sofosbuvir-Anbieters Gilead Marktstrategien der Industrie, die das Preisniveau in die Höhe treiben (2).
Der wirtschaftliche Erfolg der Marktführer in der Pharmasparte beruht heute zum großen Teil auf Produkten, die die Firmen nicht selbst entwickelt haben. Hersteller, die mehr als 70% ihres Umsatzes mit solchen Präparaten machen, so genannte Akquisitions-Spezialisten, galten bereits in der Vor-Gilead/Sofosbuvir-Ära als wirtschaftlich besonders erfolgreich (3). Arzneimittelforschung kann Jahre brauchen, bevor sie zu Erfolgen führt. Akquisition der aussichtsreichsten Produkte anderer Firmen bedeutet dagegen kurzfristige Umsatzsteigerung – ein Geschäftsmodell, das Investoren honorieren. Der Wettbewerb großer Unternehmen um die Übernahme kleinerer Firmen mit Gewinn versprechenden Wirkstoffen im fortgeschrittenen Erprobungsstadium lässt die Kosten für diese Übernahmen jedoch explodieren. Auch Gilead hat Sofosbuvir nicht selbst entwickelt, sondern durch Aufkauf des kleinen Start-ups Pharmasset erworben. Zur Zeit der Übernahme durch Gilead 2011 beliefen sich die Entwicklungskosten für den Polymerasehemmer auf 62,4 Millionen (Mio.) Dollar, werden die weiteren, aber gescheiterten Wirkstoffe von Pharmasset einbezogen, auf 271 Mio. Dollar. Sofosbuvir hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Phase II der klinischen Prüfung erreicht. In der Konkurrenz um den Kauf des Start-ups schraubten sich die Gebote in Milliardenhöhe. Um Mitbewerber auszustechen, hat Gilead sein Angebot in den letzten Wochen vor der Übernahme um fast 40% gesteigert. In Erwartung eines jährlichen Marktes von 20 Mrd. Dollar zahlte die Firma schließlich 11 Mrd. Dollar für Pharmasset. Der Geschäftsabschluss trieb in der Folgezeit den spekulativen Wert anderer kleiner Start-ups mit Hepatitis-C-Produkten ebenfalls in die Höhe (2).
Die Gewinnspekulation hat sich für Gilead ausgezahlt. Zwischen Dezember 2013 und Anfang 2016 hat die Firma weltweit mehr als 35 Mrd. Dollar Umsatz mit Hepatitis-C-Mitteln erzielt, fast das 40-Fache der Gesamtkosten, die der Firma und dem Start-up Pharmasset für die Entwicklung von Sofosbuvir und ähnlichen Stoffen entstanden sind. Gilead hat 2015 eine Gewinnmarge von 55% (!). Der Profit im Pharmasektor fließt jedoch zunehmend nicht in erster Linie in die Forschung und auch nicht in neue Akquisitionen, sondern zurück zu den Aktionären. Dies geschieht immer häufiger in Form von Aktienrückkäufen, die den Kurs der Unternehmensaktien steigern sollen, was den Investitionen in Forschung und Entwicklung offenbar immer weniger zugetraut wird. Pfizer beispielsweise hat im letzten Jahrzehnt 139 Mrd. Dollar an die Anteilseigner gezahlt, primär in Form von Aktienrückkäufen, während in derselben Zeit in Forschung und Entwicklung 82 Mrd. Dollar investiert wurden. Gilead hat zwischen 2013 und 2015 seine Investitionen in die Forschung um knapp 1 Mrd. Dollar aufgestockt (von 2,1 auf 3 Mrd. Dollar). Dagegen kündigte die Firma 2015 Aktienrückkäufe in den nächsten Jahren in Höhe von 27 Mrd. Dollar an (2). Die Verschiebung gigantischer Geldmittel von der Forschung hin zur Befriedigung der Ansprüche von Anteilseignern bedroht langfristig die Innovationskapazität der Industrie. Nach Berechnungen eines US-amerikanischen Analyse-Instituts hat sich die Zahl neu zugelassener Arzneimittel pro Milliarde Dollar Forschungs- und Entwicklungsaufwand – inflationsbereinigt – seit 1950 alle 9 Jahre halbiert (4).
Die Öffentlichkeit zahlt doppelt, beklagen die britischen Autoren zu Recht: Zum einen durch staatliche Investitionen in die ausschlaggebende frühe Forschung und anschließend für patentgeschützte Arzneimittel mit völlig überhöhten Preisen. Die Entwicklung von Hepatitis-C-Mitteln wurde in den 1990er Jahren vor allem in Deutschland und den USA durch öffentlich geförderte Grundlagenforschung zur Vermehrung des Hepatitis-C-Virus in Zellkulturen ("Replikon-System") (5) entscheidend vorangebracht. Pharmasset selbst ist aus einem Universitätslabor hervorgegangen und hat später über 2 Mio. Dollar aus staatlichen Programmen zur Forschungsförderung erhalten (2). Investitionen der öffentlichen Hand fließen jedoch nur spärlich zurück. Im Gegenteil: Legale Schlupflöcher ermöglichen es Gilead, knapp zehn Milliarden in den USA anfallende Steuern zu umgehen, indem die Firma das geistige Eigentum am Hepatitis-C-Komplex an eine irische Niederlassung transferiert – eine bei Großkonzernen verbreitete Strategie (2). Den Versuch von Pfizer, die irische Firma Allergan für 160 Mrd. Dollar zu kaufen, um dann den Sitz des Konzerns aus Gründen der Steuervermeidung nach Irland zu verlegen, hat die US-Regierung allerdings durch neue Maßnahmen gegen Steuerflucht verhindern können (6).
Die extreme Schieflage zwischen öffentlichen und privaten Interessen ist offensichtlich. Weltweit sind 130 bis 150 Millionen Menschen chronisch mit Hepatitis C infiziert, jährlich sterben mehr als 700.000 an der Infektion (7). Der potenzielle Nutzen der neuen Hepatitis-C-Mittel auch zur Verhinderung neuer Ansteckungen ist kaum realisierbar, solange der Zugang in vielen Ländern auf die schwersterkrankten Patienten beschränkt wird (2).
Politische Lösungen sind sowohl in Bezug auf die Kostendämpfung hochpreisiger Arzneimittel als auch auf die Regulierung und die Geschäftsmodelle öffentlich finanzierter Arzneimittelentwicklung dringend gefordert. Bisherige Preisverhandlungen für Hepatitis-C-Mittel haben in westlichen Ländern keine wesentliche Entlastung gebracht (1,2,7) – in Deutschland beispielsweise sank der Preis für Sofosbuvir lediglich um 11% –, von den Zugangsbarrieren in ärmeren Ländern gar nicht zu reden.* In den USA wird inzwischen die Aufhebung des Patentschutzes für neue Hepatitis-C-Mittel durch die Regierung mit Entschädigung der Patenteigner als Lösung ins Spiel gebracht. Klug eingesetzt sehen die Autoren in dieser rechtlichen Handhabe, die im Übrigen hierzulande ebenfalls gegeben wäre, auch einen Schutz vor zukünftigen extremen Preisforderungen (8). Was dringend benötigt wird, sind innovative politische Konzepte, um die Bezahlbarkeit relevanter Therapieinnovationen zu sichern (2).
Artikel aus arznei-telegramm® 9/2016 (genehmigte Nachveröffentlichung)
(1) IYENGAR, S. et al.: PLoS Medicine 2016; 13: e1002032
(2) ROY, V., KING, L.: BMJ 2016; 354: i3718
(3) BEHNKE, N. et al.: New paths to value creation in pharma. 2014; http://www.a-turl.de/?k=ores
(4) SCANNELL, J.W. et al.: Nature Rev. 2012; 11: 191-200
(5) LOHMANN, V. et al.: Science 1999; 285: 110-3
(6) HOFMANN, S.: Handelsblatt, 8. Apr. 2016
(7) WARD, J.W., MERMIN, J.H.: N. Engl. J. Med. 2015; 373: 2678-80
(8) KAPCZYNSKI, A., KESSELHEIM, A.S.: Health Affairs 2016; 35: 791-7; http://www.a-turl.de/?k=olfa
(9) 't HOEN, E.F.M.: Lancet 2016; 387: 2272-3
* Mit indischen Generikaherstellern hat Gilead inzwischen eine Lizenz für die Produktion von Sofosbuvir, Sofosbuvir plus Ledipasvir (Harvoni) sowie die soeben erst in Deutschland eingeführte Kombination Sofosbuvir plus Velpatasvir (Epclusa) vereinbart. Die Arzneimittel dürfen in Indien verkauft und in 100 Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen exportiert werden, nicht aber in eine Reihe anderer Länder mit mittleren Einkommen und hoher Krankheitslast wie Brasilien und China und auch nicht in Länder mit hohem Einkommen (1,9).