Screening auf psychische Erkrankungen bei Erwachsenen in der Primärversorgung
Projektleitung: Inanna Reinsperger
Projektbearbeitung: Julia Kern, Inanna Reinsperger
Dauer: April bis November 2024
Sprache: Englisch (mit deutscher Zusammenfassung)
Hintergrund:
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) litt 2019 jede achte Person (12,5%) an einer psychischen Erkrankung. Am häufigsten waren dabei Angststörungen und Depressionen [1]. Eine repräsentative Stichprobenerhebung aus dem Jahr 2017 zeigt hingegen, dass in Österreich jährlich rund 23% der Personen zwischen 18 und 65 Jahren an mindestens einer psychischen Erkrankung leiden [2]. Die häufigsten Erkrankungen waren dabei Angststörungen (Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen - F4 [Klassifizierung nach ICD-10]; 14% Ein-Jahres-Prävalenz), Depressive Störungen (Affektive Störungen - F5; 12% Ein-Jahres Prävalenz) und Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (F1; 5% Ein-Jahres-Prävalenz). Die Prävalenz psychischer Erkrankungen war bei arbeitslosen Personen, Personen mit finanziellen Sorgen und Personen, die sich um ein krankes Familienmitglied kümmern müssen, höher. Die hier aufgeführten Prävalenzzahlen wurden jedoch vor der COVID-19 Pandemie erhoben. Nach rezenten Reviews sind psychische Probleme im Verlauf der COVID-19 Pandemie angestiegen [3], es ist also mit einer noch höheren Prävalenz psychischer Erkrankungen in Österreich zu rechnen.
Ein „Screening“ auf psychische Erkrankungen dient dazu, Personen zu identifizieren, bei denen ein erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung besteht und die eine genauere Diagnostik benötigen [4]. Es kann im Rahmen eines üblichen Ärzt*innenbesuches durchgeführt werden und ist in der Regel kurz und relativ begrenzt. Dabei werden vorgegebene Fragen, z.B. zum emotionalen Befinden oder zu bestimmten Risikofaktoren, vom Arzt/von der Ärztin, von anderen Gesundheitsfachkräften oder von der untersuchten Person selbst schriftlich oder elektronisch ausgefüllt. Überschreitet die untersuchte Person bei der Auswertung der Fragen einen bestimmten Wert, erfolgt eine weitere, umfassendere Diagnostik, ob die gescreente Person tatsächlich an einer psychischen Erkrankung leidet und eine Behandlung benötigt. Das Screening selbst ist also noch keine Diagnose für eine psychische Erkrankung. Neben dem Einsatz eines definierten Screening-Fragebogens können auch andere Ansätze gewählt werden, um Personen mit psychischen Erkrankungen frühzeitig zu identifizieren. So können z.B. mögliche Risikofaktoren für psychische Erkrankungen (sofern bekannt) genutzt werden, um Personen mit einem erhöhten Risiko für die jeweilige Erkrankung zu identifizieren, bei denen gegebenenfalls ein Screening-Fragebogen eingesetzt werden kann. Auch eine solche zweizeitige Vorgehensweise soll in diesem Kontext als „Screening“ berücksichtigt werden.
Bei der Entscheidung, ob ein Screening auf ein bestimmtes Gesundheitsproblem durchgeführt werden soll, sollten sogenannte Screening-Prinzipien berücksichtigt werden. Diese wurden erstmals 1968 von Wilson und Junger aufgestellt [5]und 2018 auf Basis eines systematischen Reviews mit zusätzlichen Delphi-Verfahren aktualisiert [6]. Demnach sollte die zu screenende Erkrankung ein wichtiges Gesundheitsproblem darstellen, bereits im präklinischen Status erfassbar sein und eine klare Zielgruppe definiert sein. Darüber hinaus sollte das verwendete Screening-Instrument genau, zuverlässig, für die Zielgruppe akzeptabel und ökonomisch sein und eine eindeutige Interpretation der Ergebnisse ermöglichen. Für Personen mit positiven Screening-Ergebnissen sollte es eine festgelegte Vorgehensweise geben, die diagnostische Tests, Behandlungen oder Interventionen umfasst. Diese sollten für die Betroffenen verfügbar, zugänglich und akzeptabel sein und zu einer Verbesserung der Outcomes führen. Außerdem sollte eine Infrastruktur vorhanden sein, in die der Test integriert werden kann, und die Qualität des Screenings sollte kontinuierlich evaluiert werden. Schließlich, sollte ein Screening für die untersuchten Personen mehr Nutzen als Schaden bringen.
Es ist daher zu prüfen, inwieweit ein Screening auf psychische Erkrankungen auf Bevölkerungsebene im Rahmen der Primärversorgung einen zusätzlichen Nutzen im Vergleich zu keinem Screening aufweist. In Österreich wurde im Rahmen der Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchung im Jahr 2020 keine Aufnahme eines formalen Screenings auf Depressionen aufgrund der Länge des durchzuführenden Screeningtests, der limitierten therapeutischen Optionen für Personen mit leichter Depression und der Befürchtung einer unnötigen zusätzlichen Verschreibung von Psychopharmaka empfohlen. Dennoch soll die Vorsorgeuntersuchung dafür genutzt werden, teilnehmende Personen auf ihre psychische Gesundheit anzusprechen [7]. Ein möglicher Nutzen des Screenings auf andere psychische Erkrankungen wurde nicht untersucht. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit der Bewertung des Screenings auf Depression des Deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) aus dem Jahr 2018 [8]. Demgegenüber empfiehlt die US Preventive Services Task Force (USPSTF) ein Screening auf Depressionen und Angststörungen bei Erwachsenen zwischen 19 und 65 Jahren [9, 10].
Je nachdem in welchem Setting ein Screening auf psychische Erkrankungen stattfinden soll, finden sich eine Fülle an verschiedenen Screening-Instrumenten. In einem systematischen Review 2018 wurden zum Beispiel 24 Screening-Instrumente für die Anwendung im Rahmen der Primärversorgung identifiziert. Acht dieser Instrumente waren dabei Subskalen des „Patient Health Questionnaire“ (PHQ) bzw. des „Patient Stress Questionnaire“ (PSQ), die für spezifische Störungen, wie z.B. Angststörungen (GAD-7) oder depressive Störungen (PHQ-9) angewendet werden können [11].
Projektziele:
Das Projekt hat das Ziel, die aktuelle Evidenz zum Nutzen eines Screenings auf ausgewählte psychische Erkrankungen (Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen) bei Erwachsenen (Personen über 18 Jahren) im Rahmen der Primärversorgung zusammenzufassen. In diesem Kontext soll zusätzlich eine Übersicht zu möglichen Screening-Instrumenten bzw. spezifischen Risikofaktoren erarbeitet werden, die für eine Identifizierung von Personen mit Depressionen, Angststörungen sowie Suchterkrankungen im Rahmen der Primärversorgung herangezogen werden könnten. Zudem sollen Informationen zu den praktischen Konsequenzen, die aus der Implementierung eines Screenings resultieren (z.B. Entwicklung eines Versorgungspfades, ausreichendes Angebot an Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten, Schulungen für das Gesundheitspersonal), aus der Literatur zusammengetragen und daraus Empfehlungen für die Bedarfsplanung abgeleitet werden.
Forschungsfragen:
Aus den aufgeführten Projektzielen ergeben sich folgende Forschungsfragen:
- Welche Evidenz liegt zum Nutzen und zu potenziellen Risiken eines Screenings auf die betrachteten psychischen Erkrankungen (Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen) bei Erwachsenen im Rahmen der Primärversorgung hinsichtlich z.B. Erkennen und infolge Behandlung, früherer Genesung, Lebensqualität der Betroffenen, vor? Welche Empfehlungen gibt es dazu aus rezenten evidenzbasierten Leitlinien?
- Welche Screening-Methoden können angewendet werden (z.B. spezifische Screening-Fragebögen, Identifikation von Risikofaktoren/Komorbiditäten) und welche Charakteristika (z.B. Testgüte, Länge) weisen diese auf?
- Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich aus der Implementierung eines Screenings, und welche Hinweise für notwendige Kapazitäten für die einzelnen Schritte der Screening-Kette (z.B. für Diagnostik und Therapie) können aus der Literatur abgeleitet werden?
Methoden:
Für die Beantwortung der Forschungsfrage 1 werden eine systematische Literatursuche in mehreren Datenbanken, eine Handsuche in Leitlinien-Datenbanken (TRIP Database, Guidelines International Network) und gezielte manuelle Suchen auf den Websites ausgewählter Leitlinien-Institutionen (z.B. AWMF, NICE, USPSTF) durchgeführt. Nach der Literaturauswahl anhand der vorab definierten Ein- und Ausschlusskriterien (siehe PICO-Tabelle) werden die Informationen aus den systematischen Reviews und die Leitlinien-Empfehlungen in vorgefertigte Tabellen extrahiert und narrativ analysiert. Die Qualität der systematischen Reviews wird mittels ROBIS [12]und die der Leitlinien mittels AGREE-II [13]bewertet.
PICO: Einschlusskriterien der Literatur für FF1
Population |
Erwachsene ab 18 Jahren |
Intervention |
Screening/Identifikation bzw. Früherkennung folgender psychischer Erkrankungen (Kategorisierung laut ICD-11*):
mit einem standardisierten Screening-Tool bzw. anhand einer Identifizierung von |
Kontrollintervention |
Kein Screening |
Outcomes |
|
Publikationsart |
|
Länder |
Länder des Globalen Nordens |
Sprache |
Englisch, Deutsch |
*Laut der ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung. Verfügbar auf: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html (Abgerufen 19.04.2024)
Für die Forschungsfrage 2 zu den Screening-Methoden werden Informationen aus den bereits identifizierten systematischen Reviews und Leitlinien zu den Risikofaktoren/Komorbiditäten, wie auch empfohlenen Screening-Instrumenten je nach psychischer Erkrankung, sowie zu den Charakteristika der Screening-Tools tabellarisch dargestellt und narrativ zusammengefasst. Gegebenenfalls wird eine zusätzliche gezielte Handsuche durchgeführt.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage 3 werden Handlungsempfehlungen aus der identifizierten Literatur herausgearbeitet und bei Bedarf eine zusätzliche Handsuche nach Literatur zur Implementierung von Screenings auf psychische Erkrankungen durchgeführt. Dabei werden organisatorische und logistische Voraussetzungen (z.B. Ablaufprozess des Screenings, Versorgungspfad, erforderliche Kapazitäten), angelehnt an die Fragen des Core-Modells des europäischen Netzwerks für HTA (EUnetHTA), adressiert [14].
Alle Arbeitsschritte (Literaturauswahl, Qualitätsbewertung, Datenextraktion und -synthese) werden im 4-Augenprinzip von den beiden Autorinnen (JK und IR) durchgeführt.
Zeitplan:
Zeitraum |
Aufgabe |
April 2024 |
Scoping und Finalisierung des Projektprotokolls |
Mai 2024 |
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Juni – Juli 2024 |
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August – September 2024 |
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Oktober 2024 |
Interner und externer Review |
November 2024 |
Layout und Veröffentlichung |
Referenzen:
[1] World Health Organization. Mental disorders. 2022 [cited 11.04.2024]. Available from: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/mental-disorders.
[2] Wancanta J. Prävalenz und Versorgung psychischer Krankheiten in Österreich. Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Medizinische Universität Wien: 2017.
[3] Penninx B. W. J. H., Benros M. E., Klein R. S. and Vinkers C. H. How COVID-19 shaped mental health: from infection to pandemic effects. Nature Medicine. 2022;28(10):2027-2037. DOI: 10.1038/s41591-022-02028-2.
[4] American Psychological Association. Distinguishing Between Screening and Assessment for Mental and Behavioral Health Problems. 2014 [cited 11.04.2024]. Available from: https://www.apaservices.org/practice/reimbursement/billing/assessment-screening?_ga=2.102075329.1186226343.1666222147-627372789.1666222147.
[5] Wilson J. and Junger Y. Principles and practice of screening for disease. Geneva: WHO. 1968.
[6] Dobrow M. J., Hagens V., Chafe R., Sullivan T. and Rabeneck L. Consolidated principles for screening based on a systematic review and consensus process. Canadian Medical Association Journal. 2018;190(14):E422. DOI: 10.1503/cmaj.171154.
[7] Arrouas M., Bachinger G., Bachler H., Diem G., Dorner T., Haditsch B., et al. Empfehlungen Vorsorgeuntersuchung 2020. 2020 [cited 11.04.2024]. Available from: https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/load?contentid=10008.713298&version=1549356521.
[8] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Screening auf Depression. 2018 [cited 11.04.2024]. Available from: https://www.iqwig.de/download/s16-05_screening-auf-depression_abschlussbericht_v1-0.pdf.
[9] U. S. Preventive Services Task Force. Screening for Depression and Suicide Risk in Adults: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA. 2023;329(23):2057-2067. DOI: 10.1001/jama.2023.9297.
[10] U. S. Preventive Services Task Force. Screening for Anxiety Disorders in Adults: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA. 2023;329(24):2163-2170. DOI: 10.1001/jama.2023.9301.
[11] Mulvaney-Day N., Marshall T., Downey Piscopo K., Korsen N., Lynch S., Karnell L. H., et al. Screening for Behavioral Health Conditions in Primary Care Settings: A Systematic Review of the Literature. Journal of General Internal Medicine. 2018;33(3):335-346. DOI: 10.1007/s11606-017-4181-0.
[12] Whiting P., Savovi? J., Higgins J. P., Caldwell D. M., Reeves B. C., Shea B., et al. ROBIS: A new tool to assess risk of bias in systematic reviews was developed. J Clin Epidemiol. 2016;69:225-234. Epub 20150616. DOI: 10.1016/j.jclinepi.2015.06.005.
[13] The AGREE Next Steps Consortium. Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation II. 2013 [cited 19.04.2024]. Available from: https://www.agreetrust.org/wp-content/uploads/2013/10/AGREE-II-Users-Manual-and-23-item-Instrument_2009_UPDATE_2013.pdf.
[14] European Network for Health Technology A. The HTA Core Model® for Rapid Relative Effectiveness Assessments. 2015 [cited 19.04.2024]. Available from: https://www.eunethta.eu/wp-content/uploads/2018/06/HTACoreModel_ForRapidREAs4.2-3.pdf.