Strukturierte Medikationsanalyse bei Polypharmazie

Projektleitung: Reinhard Jeindl
Projektbearbeitung: Reinhard Jeindl, Julia Kern
Laufzeit: April 2025 – November 2025 (4 PM)
Sprache: Englisch (mit deutscher Zusammenfassung)
Hintergrund:
Die gleichzeitige, langfristige Einnahme mehrerer Arzneimittel (mindestens fünf Wirkstoffe) hängt häufig mit Multimorbidität zusammen und wird als Polypharmazie bezeichnet (Synonyme: Polymedikation, Multimedikation) [1]. Arzneimittelbezogene Probleme sind insbesondere bei älteren Patient:innen, welche mehrere Medikamente einnehmen, sehr häufig. Zu diesen Problemen zählen unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Wechselwirkungen, Unwirksamkeit, Einnahme von Medikamenten ohne Indikation, unangemessene Dosierungen und mangelnde Therapieadhärenz [2].
Daher ist bei den meisten Menschen mit Polypharmazie eine sorgfältige strukturierte Medikationsanalyse angebracht. Dabei werden im Gespräch mit Patient:innen unter anderem Anwendungsprobleme, Kenntnisse der Indikationen, Hinweise auf Nebenwirkungen oder mangelnde Therapietreue erhoben [3]. Für relevante arzneimittelbezogene Probleme werden anschließend Lösungen erarbeitet, z.B. Dosisanpassungen, Medikationsumstellungen, oder die Überprüfung der strukturierten Absetzung von Medikamenten (engl. Deprescribing) im Sinne der Arzneimittelsicherheit [1, 2]. Laut einer systematischen Übersichtsarbeit von Cochrane aus 2023 zu Interventionen zur Verbesserung von Polypharmazie ist unklar, ob Interventionen zur Polypharmazie tatsächlich zu einer klinisch signifikanten Verbesserung führen können. Dennoch betonen die Autor:innen, dass zunehmend Interventionen von multidisziplinären Teams durchgeführt werden, und die Anzahl der Studien zu potenziellen Verschreibungsfehlern gestiegen ist [4]. Laut einer weiteren Analyse von Cochrane aus 2023 deutet die Evidenz darauf hin, dass Medikationsanalysen bei Spitalspatient:innen wenig bis keinen Einfluss auf die Mortalität haben, jedoch wahrscheinlich die Zahl der Kontakte mit Notfallsambulanzen und Re-Hospitalisierungen verringen können [5].
In Österreich sind in etwa 500.000 Menschen von Polypharmazie betroffen [6]. In einem Kooperationsprojekt zwischen dem Dachverband der Sozialversicherungsträger, der Österreichischen Apothekerkammer und der Medizinischen Universität Wien wurde die strukturierte Medikationsanalyse anhand einer randomisiert-kontrollierten Studie (engl. randomised controlled trial, RCT) an 198 Patient:innen pilotiert und evaluiert [7]. In der Studie konnten Wechselwirkungen und Fehlanwendungen aufgezeigt werden. Die Ergebnisse zur Therapietreue (Adhärenz) und zu patient:innenberichteten Endpunkten deuteten auf eine mögliche Reduktion der Arzneimittelprobleme um 70 Prozent hin [8]. Aufgrund dieser Ergebnisse gibt es in Österreich Bestrebungen, die strukturierte Medikationsanalyse als standardisierte, kassenfinanzierte Leistung zu etablieren [7]. In Deutschland werden die Kosten für die Medikationsanalyse bei Patient:innen mit Polypharmazie seit 2022 als Kassenleistung von den Krankenkassen übernommen. Ein Anspruch besteht dabei 1x im Jahr, oder bei erheblicher Umstellung der Medikation [9].
Projektziel und Forschungsfragen:
Ziel des Projektes ist es, eine systematische Übersicht zur Evidenz der strukturierten Medikationsanalyse zu erstellen, und gleiche oder ähnliche Projekte in ausgewählten europäischen Ländern darzustellen, um eine Wissensbasis für die Entscheidungsfindung zu liefern.
Darüber hinaus soll die rechtliche Situation in Bezug auf Medikationsanalysen in Österreich, sowie Informationen zum Wirkmechanismus (Wirkmodell zur Gewichtung der unterschiedlichen Bestandteile der Medikationsanalyse) im Hintergrundkapitel des Berichts beschrieben werden.
Ziel dieser Studie ist es nicht, eine Kosteneffektivitätsanalyse durchzuführen, oder einen detaillierten Implementierungsplan für die strukturierte Medikationsanalyse in Österreich zu entwickeln. Zwei Forschungsfragen (FF) sollen beantwortet werden:
- FF1: Welche Evidenz zum Nutzen, zur Sicherheit, organisatorischen Aspekten und Kosten einer strukturierten Medikationsanalyse wird in der Literatur beschrieben?
- FF2: Wie ist die strukturierte Medikationsanalyse in ausgewählten Ländern implementiert, und welche Empfehlungen lassen sich daraus für Österreich ableiten?
Methode:
Zur Beantwortung der Forschungsfragen kommen folgende Methoden zum Einsatz:
- FF1: systematische Suche nach systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen (PubMed/MEDLINE, Embase, Epistemonikos, Cochrane Library), HTA-Berichten (INAHTA-Datenbank) und Leitlinien (Datenbanken: AWMF, GIN, TRIPS). Qualitätsbewertung mittels ROBIS (systematische Übersichtsarbeiten) [10]und AGREE II (für Leitlinien) [11]in Bezug auf die Domänen Wirksamkeit und Sicherheit. Deskriptive Analyse der organisatorischen und ökonomischen Domäne. Bei einer Vielzahl an vorliegender Literatur Beschränkung auf rezente, hochqualitative Literatur.
PICO: Einschlusskriterien der Literatur
|
Einschluss |
Ausschluss |
Population |
Personen mit Polypharmazie (langfristige, gleichzeitige Einnahme von mindestens fünf Wirkstoffen) |
Personen ohne Polypharmazie |
Intervention |
Strukturierte Medikationsanalyse |
Indikations- und/oder wirkstoffspezifische Interventionen; Klinische Entscheidungsunterstützungs-systeme (engl. clinical decision-support systems), bei denen die Medikationsanalyse nur einen Teil der Intervention ausmacht |
Komparator |
Keine Vergleichsintervention |
- |
Endpunkte |
Arzneimittelbezogene Probleme (unerwünschte Nebenwirkungen, Wechselwirkungen) Morbidität Mortalität Spitalsaufnahmen Therapieadhärenz Gesundheitskompetenz Lebensqualität Organisatorische Aspekte (beteiligte Berufsgruppen, Setting, Zeitaufwand) Einfluss auf die Beziehung zwischen Patient:innen, Apotheker:innen und Gesundheitsdienstanbieter:innen Kosten (direkt und indirekt) |
Klinische Parameter, Surrogatendpunkte |
Publikationsart |
Systematische Reviews, HTA-Berichte, Leitlinien |
Narrative Reviews, Primärstudien, Konferenzabstrakte, Editorials, Kommentare |
Sprache |
Englisch, Deutsch |
Alle anderen Sprachen |
Publikationszeitraum |
Ab 2020 |
Vor 2020 |
- FF2: Strukturierte Länderauswahl (Fokus auf Länder mit etablierten Programmen zur strukturierten Medikationsanalyse, Auswahl von Fallbeispielen); strukturierte Handsuche: Websites von Gesundheitsministerien, Berufsverbandwebsites von Apotheken, Websites länderübergreifender Organisationen (WHO, OECD, EU), Evaluationsberichte von Pilotierungen; Datenextraktion (iterative Ergänzung der vorläufigen Kategorien); qualitative Inhaltsanalyse, narrative Zusammenfassung, Beschreibung der Übertragbarkeit der Implementierung anderer Länder auf das österreichische Setting.
Vorläufige Kategorien der Datenextraktion:
Kategorie |
Zu extrahierende Daten |
Setting |
Apotheken, Spitäler, niedergelassener Bereich, häusliches Umfeld |
Ablauf |
Gesprächsdauer, Häufigkeit |
Patient:innenauswahl |
verwendete Auswahlkriterien |
Methoden |
verwendete Fragebögen (z.B. Medication Appropriateness Index (MAI), Screening Tool of Older Persons Potentially Inappropriate Prescriptions (STOPP), Screening Tool to Alert Doctors to Right Treatment (START) criteria) |
Programmkomponenten |
Klinische Komponenten (z.B. Analyse von Kontraindikationen, Wechselwirkungen, Dosierungen, Therapiedauer, Identifizierung von Medikamenten ohne Indikation) Patient:innenzentrierte Komponenten (z.B. Therapieadhärenz, Analyse der Verabreichungstechnik) Systembezogene Komponenten (z.B. Identifizierung kostengünstigerer Generika als Alternative) |
Personelle Voraussetzungen |
involvierte Berufsgruppen Qualifikationen, Zusatzausbildungen |
Digitale Tools |
digitale Dokumentation Verknüpfung mit elektronischer Gesundheitsakte automatisierte Erkennung von Arzneimittelinteraktionen und weiterer arzneimittelbezogener Probleme |
Kosten |
Kosten pro Intervention Einsparungspotenziale (potenziell geringere Medikamentenverordnungen oder Spitalsaufenthalte) |
Zeitplan/Meilensteine:
Zeitraum |
Aufgaben |
April 2025 |
Scoping, Projektprotokoll |
Mai – Juni 2025 |
Systematische Literaturrecherche, Abstract Screening, Handsuche, Volltextanalyse |
Juli – August 2025 |
Qualitätsbewertung, Datenextraktion, Evidenzsynthese, Verschriftlichung |
Oktober 2025 |
Verschriftlichung, Interner Review |
November 2025 |
Externer Review, Finalisierung, Veröffentlichung |
Referenzen:
[1] Pschyrembel Online. Polypharmazie. 2025 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.pschyrembel.de/Polypharmazie/P038B.
[2] UpToDate. Deprescribing. 2025 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.uptodate.com/contents/deprescribing.
[3] Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände. Grundsatzpapier zur Medikationsanalyse und zum Medikationsmanagement. 2014 [cited 28.04.2025]. Available from:https://www.abda.de/fileadmin/user_upload/assets/Medikationsmanagement/Grundsatzpapier_MA_MM_GBAM.pdf.
[4] Cole J. A., Gonçalves-Bradley D. C., Alqahtani M., Barry H. E., Cadogan C., Rankin A., et al. Interventions to improve the appropriate use of polypharmacy for older people. Cochrane Database Syst Rev. 2023;10(10):Cd008165. Epub 20231011. DOI: 10.1002/14651858.CD008165.pub5.
[5] Bülow C., Clausen S. S., Lundh A. and Christensen M. Medication review in hospitalised patients to reduce morbidity and mortality. Cochrane Database of Systematic Reviews. 2023(1). DOI: 10.1002/14651858.CD008986.pub4.
[6] Dachverband der Sozialversicherungsträger. Vorsicht Wechselwirkung! : 2020 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/?contentid=10007.844500.
[7] Österreichische Apothekerkammer. Alle Arzneimittel im Blick: Pilotprojekt Medikationsanalyse. 2025 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.apothekerkammer.at/oesterreichs-apothekerinnen/fort-und-weiterbildung/pilotprojekt-medikationsanalyse.
[8] Österreichische Apothekerkammer. Medikationsanalyse Ergebnisse Studie. 2025 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.apothekerkammer.at/aktuelles/aktuelle-themen/medikationsanalyse-ergebnisse-studie.
[9] Verbraucherzentrale NRW e.V. Medikationsanalyse: Apotheken prüfen, ob sich die Medikamente vertragen. 2024 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/medikamente/medikationsanalyse-apotheken-pruefen-ob-sich-die-medikamente-vertragen-76005.
[10] Whiting P., Savovi? J., Higgins J. P., Caldwell D. M., Reeves B. C., Shea B., et al. ROBIS: A new tool to assess risk of bias in systematic reviews was developed. J Clin Epidemiol. 2016;69:225-234. Epub 20150616. DOI: 10.1016/j.jclinepi.2015.06.005.
[11] Consortium A. N. S. The AGREE II Instrument [Electronic Version]. 2017 [cited 22.04.2025]. Available from: https://www.agreetrust.org/wp-content/uploads/2017/12/AGREE-II-Users-Manual-and-23-item-Instrument-2009-Update-2017.pdf.