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- Newsletter Juni 2018 | Nr. 168
- Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes: Erfahrungen und Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Appraisal-Prozesses
Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes: Erfahrungen und Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Appraisal-Prozesses
Die Anfänge dieses Prozesses liegen bereits im Jahr 2010: das LBI-HTA wurde vom Gesundheitsministerium beauftragt, eine „wissenschaftliche Entscheidungsunterstützung für die Neuorientierung der Eltern-Kind-Vorsorge in Österreich“ zu erarbeiten. In den folgenden Jahren näherten wir uns mit unterschiedlichen Fragestellungen und vielfältigen Methoden dem Thema. Im Rahmen des Projekts „Eltern-Kind-Vorsorge neu“ wurden epidemiologische Zahlen zu Gesundheitsbedrohungen für Schwangere und Kinder in Österreich ausgewertet; es wurden Policy-Dokumente zu internationalen Screeningprogrammen recherchiert; österreichische Finanzierungsstrukturen ausführlich dargestellt; systematische Reviews zu Maßnahmen für die Reduktion von Frühgeburten zusammengefasst; Informationen zu Aufsuchenden Hilfen zusammengetragen; Möglichkeiten eines elektronischen Mutter-Kind-Passes analysiert; Budgetauswirkungen einzelner Maßnahmen berechnet; und nicht zuletzt Empfehlungen zu Screeninguntersuchungen aus evidenzbasierten Leitlinien extrahiert.
Dem HTA-Zyklus „Assessment – Appraisal – Decision“ folgend, handelt es sich bei diesen Arbeiten um das „Assessment“, welches in weiterer Folge für den österreichischen Kontext in Hinblick auf die Übertragbarkeit der Ergebnisse unter Einbeziehung nationaler ExpertInnen bewertet werden muss („Appraisal“). Erst dann kann eine gesundheitspolitische Entscheidung („Decision“) getroffen werden. Um dieses „Appraisal“ zu ermöglichen, wurde im Herbst 2014 eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Facharbeitsgruppe (FAG) vom Ministerium zusammengestellt, die nach 38 Sitzungen im Mai 2018 ihre Arbeit beendet hat. Mehr als 1.500 Powerpoint-Folien mit den (v.a. Screening-) Empfehlungen aus evidenzbasierten Leitlinien sowie zahlreichen zusätzlichen Informationen wurden vom LBI-HTA zusammengestellt und der FAG präsentiert. Rund 100 Gesundheitsbedrohungen in Schwangerschaft, Wochenbett und früher Kindheit wurden von der FAG diskutiert und anhand der WHO-Screening-Kriterien bewertet. So wurde z.B. die Public Health Relevanz der jeweiligen Erkrankung/des Risikofaktors für die österreichischen Schwangeren und Kinder beurteilt, es wurde hinterfragt, ob ein frühzeitiges Erkennen zu einem besseren Behandlungsverlauf führen könnte, ob ein geeigneter Screening-Test und eine Interventions- bzw. Behandlungsmöglichkeit verfügbar ist, und nicht zuletzt, ob der zu erwartende Nutzen des Screenings den potentiellen Schaden überwiegt. Denn vor dem Hintergrund großer Erwartungen an die Möglichkeiten der Früherkennung wird oft vergessen, dass ein Screening von anscheinend gesunden, symptomfreien Personen immer auch einen Schaden verursachen kann, wie z.B. Verunsicherung durch falsch-positive Ergebnisse, Überdiagnostik und –therapie.
Anhand dieser standardisierten Bewertung jeder einzelnen Gesundheitsbedrohung wurden im Rahmen dieses Prozesses von der FAG insgesamt 51 Empfehlungen FÜR ein Screening und 37 Empfehlungen GEGEN ein Screening sowie zahlreiche Beratungsempfehlungen ausgesprochen. Über die gesamte Prozessdauer hinweg waren insgesamt 49 FAG-Mitglieder und stellvertretende Mitglieder, großteils ehrenamtlich, beteiligt.
Innovativ ist vor allem der Prozess selbst; wesentliche Merkmale sind z.B. Transparenz, Partizipation sowie Nachvollziehbarkeit: Sämtliche Ergebnisprotokolle der FAG sind online auf der Webseite des Ministeriums nachzulesen. Es konnten – auch von am Prozess nicht beteiligten Personen und Institutionen – Stellungnahmen zu den Protokollen abgegeben werden. Durch die Interdisziplinarität und Multiprofessionalität der FAG wurden erstmals neben der ärztlichen Sichtweise auch andere Perspektiven z.B. der Hebammen, Sozialen Arbeit, Evidenzbasierten Medizin, Public Health etc. miteinbezogen. Es wurde systematisch „Evidenz“ (v.a. in Form von Empfehlungen aus methodisch guten, evidenzbasierten, meist internationalen Leitlinien) in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, die Bewertung dieser Evidenz basierte auf einem klar definierten Prozess und mündete in immer gleich strukturierten Empfehlungen, welche neben der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen ein Screening auch weitere wichtige Aspekte (Screening für alle oder z.B. eine Risikogruppe, Häufigkeit und Zeitpunkt des Screenings, empfohlene Screeningmethode, Konsequenzen des Screenings) beinhaltete.
Inhaltlich wurden verstärkt auch psychosoziale Themen diskutiert. Empfohlen wurde beispielsweise ein Screening auf Störungen der psychischen Gesundheit bei Schwangeren, häusliche Gewalt, sozioökonomische Benachteiligung und psychosoziale Belastungen. Dadurch soll zukünftig auch eine Verlinkung mit den Frühe Hilfen Netzwerken leichter möglich sein.
Nach 3,5 Jahren monatlicher FAG-Sitzungen geht ein für Österreich in vielerlei Hinsicht innovativer Prozess zu Ende. Nun ist die Politik am Zug, damit die zahlreichen Empfehlungen der ExpertInnen auch die entsprechende praktische Umsetzung erfahren.
Mag.a rer.nat. Inanna Reinsperger, MPH; Wissenschafterin am LBI-HTA
LBI-HTA/ AT 2018: Endbericht „Eltern-Kind-Vorsorge neu. Teil XI: Mutter-Kind-Pass Weiterentwicklung: Screeningempfehlungen der Facharbeitsgruppe für Schwangerschaft, Wochenbett und Kindheit (0-6 Jahre)“, demnächst verfügbar unter https://eprints.aihta.at/1163/
Alle LBI-HTA Berichte des Projekts „Eltern-Kind-Vorsorge neu“ sind verfügbar unter https://hta.lbg.ac.at/page/praevention-screening/de
Informationen zum Prozess, Protokolle der Sitzungen, Stellungnahmen sind verfügbar unter www.bmgf.gv.at/muki