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- Newsletter Juni 2025 | Nr. 238
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Editorial: Im Spannungsfeld zwischen Machbarkeit und Menschlichkeit
Im Rahmen eines GÖG-Colloquiums wurden im November 2024 diese Fragen aufgegriffen und nachfolgend wurde ein Artikel im Fachjournal ANÄSTHESIE NACHRICHTEN – Anästhesiologie, Intensiv-, Notfall-, Schmerz- und Palliativmedizin mit dem Titel „Mythen moderner Medizin: beste medizinische Versorgung, Übertherapie und rechtzeitige Therapieentscheidungen“ publiziert.
Der Mythos, dass maximale Intervention gleichbedeutend mit optimaler Versorgung ist, ist eine der Ursachen für Übertherapie. Medizinisches Handeln ohne klare Indikation und ohne Berücksichtigung des Patient:innenwillens ist nicht nur ethisch, sondern auch juristisch bedenklich. In dem Beitrag diskutieren wir die vier ethischen Prinzipien, die die Leitstruktur für verantwortungsvolle Entscheidungsfindung in der Medizin sind – Autonomie, Wohltun, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit.
Trotz schwerer Erkrankung ein gutes Leben bis zum Lebensende zu haben, setzt eine rechtzeitige, gut kommunizierte Therapiezieländerung von Heilung Richtung Palliation voraus. Die Würde eines schwer kranken oder sterbenden Menschen zu wahren, bedeutet, Leiden nicht unnötig zu verlängern und Sterben unter bestmöglicher Symptomlinderung in palliativmedizinischer Begleitung zuzulassen.
Gerechte Gesundheitsversorgung bedeutet nicht, dieselbe Therapie für Menschen mit gleicher Erkrankung durchführen zu müssen. Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit und Wirksamkeit beziehen sich im Einzelfall auf eine individuelle Gerechtigkeit und berücksichtigen Patient:innenwünsche in deren individuellem Wertesystem. Verteilungsgerechtigkeit bezeichnet die gerechte Verteilung von Ressourcen und heißt für die Medizin einen möglichst gleichen und fairen Zugang zu den verfügbaren Gesundheitsleistungen für alle Menschen. Die Vermeidung von Übertherapie ist der vordringlichste und am „einfachsten“ umsetzbare Mechanismus zur Vermeidung von „Futility“ – jede einzelne medizinische Fachkraft ist dafür in ihrem Bereich verantwortlich.
Im Rahmen partizipativer Entscheidungsfindung sollen Patient:innen aktiv in Therapieentscheidungen eingebunden werden, um sicherzustellen, dass medizinische Maßnahmen ihren individuellen Wertvorstellungen entsprechen. Dies fördert nicht nur die Autonomie, sondern auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem, verlangt aber auch von jedem Einzelnen die Übernahme von Selbstverantwortung im Rahmen eines Advance Care Planning Prozesses.
In Zeiten hoher Erwartungen an die Medizin ist es unerlässlich, ethische und rechtliche Überlegungen in die medizinische Entscheidungsfindung zu integrieren und Patient:innen, deren Angehörige sowie alle Gesundheitsfachkräfte darüber zu informieren. Machbarkeitsmedizin aus Angst vor dem Vorwurf der Unterlassung ist weder rechtlich noch ethisch rechtfertigbar.
Wir plädieren für eine menschliche Medizin, die kritisch abwägt und die Bedürfnisse der einzelnen Patient:innen aufgreift. Eine solche Medizin erkennt an, dass nicht alles, was machbar ist, auch sinnvoll und für den einzelnen Menschen indiziert ist. Nur individuelle kritische Abwägung von Risiko und Nutzen, von Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit einer technisch machbaren medizinischen Handlung kann eine Versorgung gewährleisten, die nicht nur effizient, effektiv, gerecht und leistbar ist, sondern gleichzeitig auch eine hohe menschliche Qualität hat.
Ao. Univ.-Prof.in Dr.in med. Barbara Friesenecker ist Professorin an der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Ethik der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).
Dr. Michael Halmich LL.M. ist Jurist und Ethikberater im Gesundheitswesen. Er leitet das FORUM Gesundheitsrecht und ist Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Ethik und Recht in der Notfall- und Katastrophenmedizin (öGERN).
Dr.in med. univ. Eva Potura leitet die Abteilung Qualitätsmanagement und Zertifizierungen in der Gesundheit Österreich GmbH.
Referenzen
Friesenecker, B., Halmich, M. & Potura, E. Mythen moderner Medizin: beste medizinische Versorgung, Übertherapie und rechtzeitige Therapieentscheidungen. Anästhesie Nachr (2025). https://doi.org/10.1007/s44179-025-00300-7.