Humangenetische Untersuchungen in Österreich: Ein Überblick über massiv-parallele Sequenzierung (MPS) - Anwendungsfelder, Nutzen und Implikationen für die Versorgung

Projektleitung: Gregor Goetz
Projektbearbeitung: Gregor Goetz, Reinhard Jeindl, Alba Colicchia
Laufzeit: April 2025 – November 2025 (7 PM)
Sprache: Englisch (mit deutscher Zusammenfassung)
Hintergrund:
Humangenetische Untersuchungen umfassen diverse Methoden zur Analyse des menschlichen Erbguts. Die massiv-parallele Sequenzierung (MPS) – darunter Next Generation Sequencing (NGS/Short-Read) und Third Generation Sequencing (TGS/Long-Read) – hat sich dabei als Schlüsseltechnologie etabliert. Diese Verfahren ermöglichen die gleichzeitige Analyse zahlreicher DNA-Fragmente, wodurch genetische Diagnostik schneller wurde und die Anwendungsmöglichkeiten in der medizinischen Versorgung erheblich erweitert wurden. Diese Entwicklung schafft neue Möglichkeiten in der Diagnostik und Therapieplanung, wirft jedoch zugleich komplexe Fragen zur Evidenzbewertung, Integration in die Regelversorgung und zu den ethischen Implikationen auf. Die zunehmende Verfügbarkeit dieser Technologien erfordert evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen für Gesundheitssysteme [1].
Die Nutzenbewertung von humangenetischen Untersuchungen ist komplex. Einerseits zeigten Primärstudien und systematische Reviews zu genomischen Daten methodische Schwächen und eine begrenzte Evidenz bezüglich patient:innenrelevanter Endpunkte [2, 3]. Andererseits ergeben sich in der genomischen Medizin Potenziale für aussagekräftigere Studiendesigns durch gezielte Patient:innenselektionsstrategien und validierte Surrogatmarker für effizientere und adaptive Studiendesigns [4].
Eine rezente, unveröffentlichte Übersichtsarbeit der GÖG (Gesundheit Österreich GmbH) analysierte humangenetische Leistungen in der Regelversorgung ausgewählter Länder (Belgien, Niederlande, Deutschland) [5]. Die Analyse fokussierte auf Leistungskataloge, Vergütungssysteme und Zugangswege zur genetischen Diagnostik, wobei deutliche Unterschiede zwischen den Ländern in Bezug auf Struktur, Detaillierungsgrad und Umfang der genetischen Leistungskataloge festgestellt wurden. Ergänzend dazu lieferte ein rezenter AIHTA Rapid Review eine Übersicht zu bereits eingesetzten, als auch sich in Entwicklung befindenden Sequenziertechnologien und deren Anwendungsgfeldern [6].
Sowohl der GÖG-Bericht [5] als auch der AIHTA Rapid Review [6] identifizierten ein breites Spektrum an Anwendungsfeldern humangenetischer Untersuchungen, welche vorrangig eine personalisierte Medizin anstreben durch, unter anderem, genetische Diagnostik seltener Erkrankungen und Stoffwechselstörungen, molekularpathologische Untersuchungen in der Onkologie (Tumorprofiling, Liquid Biopsy), oder Pharmakogenetik. Besonders hervorgehoben wurden in beiden Berichten Anforderungen an die genetische Beratung, Qualitätssicherungssysteme sowie länderübergreifende Kooperationsmodelle für seltene genetische Erkrankungen. Auch die Herausforderungen bei der Implementierung von MPS-Technologien wurden thematisiert: große Datenmengen, hohe Kosten, komplexe Ergebnisinterpretation und ethische Fragen bei Zusatzbefunden.
Aufbauend auf diesen Vorarbeiten soll das vorliegende HTA-Projekt die Evidenz zum Nutzen und zu den Implikationen von MPS-Technologien systematisch aufarbeiten, insbesondere da die österreichischen Sozialversicherungsträger (SV) einen Leistungskatalog zu humangenetischen Untersuchungen planen. Das Projekt soll evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen für die angemessene Integration dieser MPS-Technologien ins österreichische Gesundheitswesen liefern.
Projektziele:
Dieses Projekt zielt auf die systematische Aufarbeitung der Evidenz aus systematischen Übersichtsarbeiten zu MPS für Entscheidungsträger:innen im österreichischen Gesundheitswesen ab. Im Einzelnen:
- Identifikation der klinischen Indikationen strukturiert nach Anwendungsfelder von MPS aus systematischen Reviews/HTA Berichten.
- Bewertung der Evidenz zum Nutzen ausgewählter Untersuchungen, unter Berücksichtigung der diagnostischen Genauigkeit als "linked evidence" sowie berichteter klinischer Konsequenzen und patient:innenrelevanter Endpunkte.
- Strukturierte Darstellung der organisatorischen, ökonomischen und ethischen Implikationen ausgewählter genetischer Untersuchungen.
- Bereitstellung einer Evidenzbasis zur Priorisierung humangenetischer Leistungen fokussierend auf MPS für eine mögliche Aufnahme in den Leistungskatalog.
Nicht-Ziele:
Folgende Aspekte werden im Projekt nicht bearbeitet:
- Vollständige De-novo-Bewertung aller verfügbaren humangenetischen Untersuchungen
- Detaillierte Kostenanalysen oder Budget-Impact-Analysen einzelner Tests
- Rechtliche Bewertung von Datenschutz- und Haftungsfragen
- Systematische Bewertung von Primärstudien zu einzelnen genetischen Untersuchungen
Forschungsfragen:
FF1: Welche klinischen Indikationen strukturiert nach Anwendungsfeldern für MPS werden in systematischen Reviews und HTA-Berichten bewertet?
FF2: Welche Evidenz zum Nutzen von priorisierten MPS liegt vor, bezüglich:
- diagnostischer Genauigkeit als "linked evidence"
- klinischer Konsequenzen und patient:innenrelevanter Endpunkte (z.B. Therapieänderungen, Morbidität, Mortalität, Lebensqualität)
FF3: Welche organisatorischen, ökonomischen und ethischen Implikationen werden im Zusammenhang mit den priorisierten humangenetischen Untersuchungen in der Literatur berichtet?
Methoden:
Studiendesign
Overview of Reviews mit mehrstufiger Vorgehensweise:
Initiales Scoping: Abgleich einer SV-Liste humangenetischer Leistungen (Fokus: MPS) mit internationaler Literatur
Short-List: Priorisierung von 3-5 Tests/Indikationen in Abstimmung mit dem Dachverband der österreichischen Sozialversicherungen (DVSV). Dabei werden gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern die ökonomischen Implikationen (z.B. geschätzte Mengen, Kosten) eingestuft und auf dieser Basis die Short-Liste erstellt.
Evidenzanalyse: Systematische Synthese für priorisierte Themenbereiche
Ein-/Ausschlusskriterien
PICO: Einschlusskriterien der Literatur
|
Einschluss |
Ausschluss |
Population |
Personen mit klinischer Indikation für humangenetische Untersuchungen |
Gesunde Probanden, Tiermodelle |
Intervention |
Humangenetische Untersuchungen mittels MPS-Technologien (Short-Read /NGS, Long-Read/TGS) |
Nicht-genetische Diagnostik, Einzelgen-Tests ohne MPS-Technologie |
Kontrollintervention |
Relevante Vergleichsinterventionen (andere diagnostische Tests, kein Test, andere humangenetische Untersuchungsverfahren) oder keine Vergleichsintervention |
- |
Outcomes |
FF1: Klinische Indikationen strukturiert nach Anwendungsfelder FF2: Wirksamkeit:
Sicherheit:
FF3: Organisatorische, ökonomische und ethische Implikationen |
Studien mit ausschließlich technischen Parametern ohne klinischen Bezug |
Publikationsart |
Systematische Reviews, HTA-Berichte, Reviews mit Modellierungsstudien zum Nutzen/Schaden |
Narrative Reviews, Scoping Reviews, Primärstudien, Konferenzabstracts, Editorials, Kommentare |
Sprache |
Englisch, Deutsch |
Alle anderen Sprachen |
Publikationszeitraum |
Ab 2020 |
Vor 2020 |
Abkürzungen: HTA...Health Technology Assessment; NGS...Next Generation Sequencing; TGS...Third Generation Sequencing
Informationsquellen & Suchstrategie
Systematische Datenbanksuche:
- PubMed/MEDLINE
- Embase
- Cochrane Library
- International HTA Database
- PROSPERO (für laufende Reviews)
Handsuche:
- Referenzlisten identifizierter Reviews
- Webseiten relevanter HTA-Agenturen (z.B. NICE, IQWiG, CADTH)
- Webseiten relevanter Fachgesellschaften
Die Suchstrategien werden mit Schlagwörtern und validierten Filtern für systematische Reviews erstellt.
Literaturauswahl und Datenextraktion
Screening: Zwei unabhängige Autor:innen bewerten Titel/Abstracts und Volltexte anhand der definierten Kriterien. Der Auswahlprozess wird in einem PRISMA-Flussdiagramm dargestellt.
Datenextraktion: Relevante Informationen zu Studiencharakteristika, Methoden und Hauptergebnissen (PICO) werden mittels pilotierten Datenextraktionstabellen extrahiert. Die Extraktion erfolgt durch eine/n Autor:innen mit Kontrolle durch eine zweite Person.
Qualitätsbewertung
Die Qualität der eingeschlossenen systematischen Reviews wird mittels ROBIS [7] durch zwei unabhängige Autor:innen bewertet. Die Ergebnisse werden bei der Datensynthese berücksichtigt.
Datensynthese
FF1: Narrative Beschreibung der identifizierten klinischen Indikationen strukturiert nach Anwendungsfelder mit tabellarischer Übersicht.
FF2: Narrative Synthese der Evidenz zur diagnostischen Genauigkeit und zu klinischen Konsequenzen entsprechend dem EUnetHTA Core Model für diagnostische Tests [8].
FF3: Strukturierte Zusammenfassung der berichteten organisatorischen, ökonomischen und ethischen Implikationen.
Alle Arbeitsschritte werden im 4-Augen-Prinzip durchgeführt und durch internen sowie externen Review qualitätsgesichert.
Zeitplan:
Zeitraum |
Aufgabe |
April 2025 |
Protokollfinalisierung, Scoping, Abgleich SV-Liste |
Mai – Juni 2025 |
Systematische Literaturrecherche, Abstract-Screening, Erarbeitung Short-List-Vorschlag |
Juli-August 2025 |
Volltext-Screening, DVSV-Abstimmung, Datenextraktion, Qualitätsbewertung der Studien |
September 2025 |
Evidenzsynthese und Verschriftlichung |
Oktober 2025 |
Erstellung eines Erstentwurf des Berichts, Interner Review |
November 2025 |
Externer Review, Finalisierung, Veröffentlichung |
Referenzen:
[1] Williams GA, Liede S, Fahy N, Aittomaki K, Perola M, Helander T, et al. Regulating the unknown: A guide to regulating genomics for health policy-makers. Policy Brief 38. Brussels: European Observatory on Health Systems and Policies; 2020.
[2] [Ioannidis JPA, Khoury MJ. Evidence-based medicine and big genomic data. Hum Mol Genet. 2018;27(R1).
[3] Phillips KA, Deverka PA, Sox HC, Khoury MJ, Sandy LG, Ginsburg GS, et al. Making genomic medicine evidence-based and patient-centered: a structured review and landscape analysis of comparative effectiveness research. Genet Med. 2017;19(10):1081-91.
[4] Ioannidis JPA, Khoury MJ. Are randomized trials obsolete or more important than ever in the genomic era? Genome Med. 2013;5(4):32.
[5]Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). Humangenetische Leistungen in der Regelversorgung ausgewählter Länder. Unveröffentlichter Bericht. Wien: GÖG; 2024.
[6] Jeindl R, Mayer-Ferbas J. Massive parallel sequencing – technologies for high-throughput analysis of genetic-genomic data sets. Rapid Review Nr. 015. Wien: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH; 2024.
[7] Whiting P, Savovi? J, Higgins JP, Caldwell DM, Reeves BC, Shea B, et al. ROBIS: A new tool to assess risk of bias in systematic reviews was developed. J Clin Epidemiol. 2016;69:225-34.EUnetHTA [Internet]. [zitiert am 10.03.2025]. Verfügbar unter: https://web.archive.org/web/20230201055231/https:/www.eunethta.eu/about-eunethta/